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Aus: Ausgabe vom 05.03.2024, Seite 7 / Ausland
Blutbad in Gaza

Kein Einzelfall

118 Tote beim »Mehlmassaker« in Gaza: Israels Militärsprecher leugnet Angriffe auf Menschen bei Hilfslieferung. Berichte zu weiteren Attacken auf Hungernde
Von Jakob Reimann
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Auf Hilfsgüter Wartende sind laut Berichten Ziel israelischer Angriffe (Gaza-Stadt, 19.2.2024)

Es war einer der tödlichsten Angriffe seit Beginn des Krieges in Gaza am 7. Oktober: Beim sogenannten Mehlmassaker wurden am Donnerstag mindestens 118 Menschen getötet und 760 weitere verletzt, als sie auf Nahrungsmittel eines Hilfskonvois warteten. Diverse Zeugen und Untersuchungsergebnisse verschiedener NGOs beschuldigen die israelische Armee, die Menschenmenge angegriffen zu haben. »Israelische Panzer schossen heftig auf palästinensische Zivilisten«, heißt es etwa in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Euromed vom Sonntag. Das israelische Militär weist diese Darstellung zurück. Es sei zu einer Massenpanik gekommen, in deren Folge Menschen totgetrampelt und auch von Lastwagen überrollt worden seien. Zeugen bestätigen, dass es diese Massenpanik gab, doch sei die eine Folge des israelischen Feuers gewesen.

Das Militär veröffentlichte Infrarotaufnahmen, die seine Darstellung belegen sollen. Das Investigativteam der BBC erklärte, dass das Video »bearbeitet« und in vier Teile geschnitten wurde. Die ersten beiden Teile zeigen mehrere Menschenmengen, die sich um die Trucks herum befinden. Die anderen dann bereits »regungslose Personen«, die teils deutlich entfernt vom Konvoi auf dem Boden liegen, sowie mehrere israelische Militärfahrzeuge. Auch wurden weitere Videoaufnahmen analysiert, auf denen Gewehrfeuer zu hören und Menschen zu sehen sind, die hinter den Trucks in Deckung gehen. »Die Israelis schossen gezielt auf die Männer«, zitierte BBC den Reporter Mahmoud Awadeya. »Es war eine Nacht von Tod und Hunger«, kommentierte der israelische Journalist Gideon Levy am Sonntag in der Tageszeitung Haaretz.

Außenministerin Annalena Baerbock forderte in einer auf X veröffentlichten Erklärung, dass »die israelische Armee lückenlos aufklären« solle, was geschehen ist – keine unabhängige Untersuchung etwa seitens der UNO, vielmehr soll der Beschuldigte das Verbrechen selbst untersuchen. Am Sonntag stellte Armeesprecher Daniel Hagari die Ergebnisse »einer ersten Überprüfung des unglücklichen Vorfalls« vor und sprach von »einer humanitären Operation, um die Zivilbevölkerung im nördlichen Gazastreifen mit Hilfslieferungen zu versorgen«. Das israelische Militär habe »den Hilfskonvoi nicht angegriffen«, behauptete er. Hagari räumte zwar ein, dass israelische Truppen »Warnschüsse« abgegeben hätten, um die »Menge auseinanderzutreiben«, und auf einzelne »Plünderer«, die sich den Soldaten genähert haben, »reagiert« hätten, doch ob dabei jemand erschossen oder verletzt wurde, erwähnte der Sprecher nicht.

Während Hagari die direkten Angriffe auf die Menschenmenge leugnet, bestätigen verschiedene Quellen diese Version der Geschichte. »Das Al-Awda-Krankenhaus hat etwa 176 Verletzte aufgenommen«, erklärte Mohammed Salha, der Interimsleiter des Krankenhauses, in das viele der Toten und Verletzten eingeliefert wurden, gegenüber der BBC, »142 dieser Fälle sind Schussverletzungen, der Rest stammt von der Massenpanik«. Der Direktor des Kamal-Adwan-Hospitals, Hussam Abu Safia, erklärte, dass sämtliche Personen, die ins Krankenhaus eingeliefert wurden, Schussverletzungen hatten. Auch der Journalist Husam Shabat bestätigte gegenüber der New York Times diese Darstellung. Ein Team der UNO berichtete von einer »großen Anzahl von Schusswunden« im Shifa-Krankenhaus, wo 70 der Toten eingeliefert wurden.

Der aus Gaza berichtende Journalist Muhammad Shehada stellte auf X heraus, dass es sich bei dem »Mehlmassaker« keineswegs um einen Einzelfall gehandelt habe, sondern dass das israelische Militär »seit Wochen wahllos auf verhungerte Gazaner schießt, die an genau der gleichen Stelle auf Hilfslieferungen warteten«. Er veröffentlicht mehrere Videos und Fotos aus der zweiten Februarhälfte, die das belegen sollen, sowie die Aussagen von Augenzeugen, die über entsprechende Angriffe berichteten. »Für einen Sack Mehl muss ich bluten und werde gedemütigt und verliere meine gesamte Würde«, ruft in einem Video ein gehetzter junger Mann, der einen Mehlsack geschultert hat, in die Kamera.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (6. März 2024 um 05:40 Uhr)
    »Während Hagari die direkten Angriffe auf die Menschenmenge leugnet...« Tut er ja gar nicht. Immer schön auf die Formulierungen achten: »Das israelische Militär habe 'den Hilfskonvoi(!) nicht angegriffen' [...] Hagari räumte zwar ein, dass israelische Truppen 'Warnschüsse' abgegeben hätten, um die 'Menge auseinanderzutreiben', und auf(!) einzelne «Plünderer»(!), die sich den Soldaten genähert haben, 'reagiert' hätten« ((!) von mir) Erstens hat er auf eine nicht gestellte Frage geantwortet, indem er dementiert, dass auf den Hilfskonvoi geschossen wurde, was niemand behauptet hat. Zweitens bestätigt er eine »Reaktion«. Drittens nutzt er Interpretationsspielraum großzügig aus: »einzeln« ist ein sehr dehnbarer Begriff - bei Zehnrausenden sind 1000 auch »Einzelne« (einer unter zehn) -, ebenso wie »Plünderer« und das »sich den Soldaten Nähern« - haben sich die Hungernden nicht brav genug in Reih und Glied angestellt? Ich sehe nur ein weiteres Beispiel für überspezifische Dementis und großzügigen Missbrauch von Terminologie. Wer nicht genau aufpasst, fällt drauf rein.

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