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Aus: Ausgabe vom 04.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Dunkle Passage

Neo-Noir im chinesischen Film: Wei Shujuns »Only the River Flows« und die Folgen
Von Kai Köhler
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Ermittlungsarbeit ist Projektion: Zhu Yilong als Inspektor Ma

Inspektor Ma ist nicht zu beneiden. Als erste wurde die »Oma vier«, wie man sie im Dorf nannte, getötet: eine allseits beliebte, stets hilfsbereite Witwe, die mit ihrem Adoptivsohn, dem »Irren«, zusammengelebt hatte. Zwar gibt es durchaus Spuren, sie führen auch zu Personen, die in den Fall verwickelt sind. Aber am Ende stößt Ma doch nur auf unglückliche Lebenslagen, auf geheimgehaltene soziale Abweichungen.

Als weitere Tote anfallen, steigt der Druck von ganz oben, rasch einen Täter vorzuweisen. Mas Chef ist stolz darauf, eine »Modellbrigade« unter sich zu haben. Mindestens fraglich ist, ob dieser Titel auf tatsächlichen Leistungen beruht oder eher auf der Geschicklichkeit des Chefs, Leistungen vorzutäuschen. Jedenfalls drängt er Ma, den »Irren« festzusetzen und den Fall für abgeschlossen zu erklären.

In Film geht es aber weniger darum, wer die Morde wirklich begangen hat. Im Zentrum steht der Ermittler: seine wachsenden Zweifel an seiner Arbeit, nicht nur in diesem Fall, sondern grundsätzlich. Ma gerät in eine Lebenskrise, die sich auch auf seine Ehe auswirkt und zuletzt auf seine Fähigkeit, Realität und Imagination auseinanderzuhalten. Das letzte Viertel des Films ist vermutlich voller Traumsequenzen, doch fehlt eine eindeutige Auflösung, was tatsächlich geschehen ist.

Das ist Absicht. In einer Schlüsselszene sieht man Ma im heimischen Wohnzimmer, während seine Frau aus einem anderen Raum herüberschimpft. Mas Blick fällt auf ein ­Puzzlespiel der Frau. Er nimmt ein paar Puzzleteile und spült sie die Toilette runter. Das Spiel wird nie aufgehen. Dass auch der Film ein solches Spiel ist, wird immer wieder – vielleicht eine Spur zu aufdringlich – herausgestellt: Mas Ermittlungsteam hat sich in einem aufgegebenen Kino einquartiert. Das Büro befindet sich auf der Bühne – dort, wo früher einmal die Leinwand war.

Es hätte solcherart Hinweise gar nicht gebraucht, »Only the River Flows« wäre auch ohne sie eindrucksvoll genug. Dazu trägt das düstere Ambiente wesentlich bei. Als Zeit der Handlung ist der Dezember 1995 angegeben, und glaubt man Wei Shujun, muss zu jener Zeit die chinesische Provinz sehr trostlos gewesen sein. Oft gießt es in Strömen, wirklich hell ist es nie. Die meisten Innenräume wirken heruntergekommen. Gleich in der ersten Szene sieht man ein halb abgerissenes Haus, in dem ein kindliches Versteckspiel beinahe tödlich endet.

Die Zeichen stehen auf Zerstörung, für einen möglichen Aufbau gibt es keinerlei Anzeichen. Manchmal sind die Personen eng zusammengedrängt. Beinahe schlimmer aber ist es, wenn sie allzu viel Platz haben und sich im Raum verlieren. Den räumlichen Arrangements entsprechen die Beziehungen zwischen den Menschen – eine offene Aussprache, Gesten der Zuwendung stellen den Ausnahmefall dar. Das gilt auch für die Hauptfigur Ma, der zwar mit den Verdächtigen freundlich und geduldig umgeht, doch in seiner Verschlossenheit ganz in der Tradition der einsamen Film-Noir-Detektive steht.

Also kein Hoffnungszeichen? Das Ende scheint positiv. Man darf es hier ruhig verraten, denn die Spannung des Films ist eine ganz andere als eine auf den Ausgang gerichtete. Ma bekommt einen Orden für außerordentliche Verdienste, und zuletzt sieht man in der wohl ersten wirklich hellen Einstellung des Films sein neugeborenes Kind. Ersteres ist freilich ein Hohn auf den Verlauf der Ermittlungen, das zweite wirkt aufgesetzt und soll es wohl auch.

Schwer vorstellbar, dass der in ­China für eine Arthouse-Produktion recht erfolgreiche, 2023 in Cannes in der Sektion »Un certain regard« vorgestellte Film nur als Illustration einer zum Glück überwundenen Vergangenheit gesehen wurde. Die Verarbeitung jüngerer Geschichte geschieht selten ohne einen Blick auf die Gegenwart. Daraus lässt sich auch schließen, dass es in der Volksrepublik (zumindest für die für internationale Festivals gedachten Filme) ein hohes Maß an künstlerischer Freiheit gibt.

Ein Seitenblick auf Filme, die auf der Berlinale zu sehen waren, stützt diese Annahme. Da gab es »Kong fang jian li de nü ren« (»Es muss Regen fallen«) von Qiu Yang, eine Geschichte über eine völlig dysfunktionale Familie, in deren Mittelpunkt die überforderte Mutter steht. Dieser Film endete immerhin mit Anzeichen dafür, dass sich die Figuren ihrer Vergangenheit stellen und zu einem besseren Umgang mit ihren Problemen finden. Düsterer noch ist »Jia ting jian shi« (»Kurze Geschichte einer Familie«) von Lin Jianjie. Hier ist ein erfolgreiches Ehepaar mit einem Sohn geschlagen, der sich – in China die größte vorstellbare Katastrophe – so gar nicht um gute Schulnoten bemüht. Der Sohn bringt einen Freund nach Hause, der allmählich in die Familie hineinwächst und nach dem Tod seines Vaters beinahe adoptiert wird. Freilich verdrängt der kluge und strebsame Neuling den Sohn, der sich nicht anders zu helfen weiß, als den Konkurrenten um die Liebe der Eltern wieder herauszudrängen. Am Ende sitzen die drei Verbliebenen wortlos um den Esstisch, die Sache hat keinem Glück gebracht.

»Only the River Flows«, Regie: Wei Shujun, VR China 2023, 101 Min., bereits angelaufen

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