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Aus: Ausgabe vom 04.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Spirou im Blockhaus

Die Comiczeitschrift Graphica
Von Hagen Bonn
Graphica Nr 4 - Titelbild.jpg
Kostet tatsächlich weniger als ein Apfel und ein Ei: Soul Food Graphica

Der große André Franquin (1924–1997), Schöpfer von »Spirou und Fantasio«, den »Marsupilamis« oder »Gaston«, stellte einmal fest: »Der Alptraum fängt erst beim Aufwachen an.« Wenn man die Tiefe dieser Wahrheit verstanden hat, muss es uns fast zwanghaft in Zeitschriften- und Buchläden ziehen, um der Endzeit des gegenwärtigen Kapitalismus kurz zu entkommen. Freilich gibt es jetzt auch Streamdienstmonopole, die uns regelmäßig hervorragende Serienkost anbieten, die es aber auch immer besser fertigbringen, uns in Verflachung, Verblödung und Manipulation zu ertränken. Hatte ich schon Verblödung erwähnt? Dass ich ARD und ZDF und Co. hier gar nicht näher betrachte, liegt wohl daran, dass kein Mensch dieses Angebot als ernsthaftes Fernsehen deklarieren kann. Die Privatkonkurrenz fliegt natürlich genauso tief, wenn sie Formate entwickelt wie »Sommerhaus der Stars«, wo die sogenannten Stars nur eins verbindet, sie haben alle den IQ eines Teelichtes. Also bleibt mir nur der Buchhandel. Hereinspaziert.

Auf dem Titelbild der recht neuen Comiczeitschrift Graphica aus dem Wiele-Verlag Hamburg, die erste Nummer erschien im September 2023, gerade eben Heft vier, erkenne ich tatsächlich Spirou. Von einem Alien begleitet, steht er in einem Raumschiff. Freilich handelt es sich um eine Spirou-Imitation, »Fred Flamingo« von René Lehner. Bei mir wirkt es, ich greife sofort zu.

Das Konzept ist altbewährt und wird seit vielen Jahren zum Beispiel von ZACK bedient. In dem recht dünnen Heft, 32 Seiten im A4-Format, finden sich fünf Comicbeiträge. Einige werden dann in den Folgeheften fortgesetzt, andere dienen als abgeschlossene Appetithäppchen. Im Großen und Ganzen geht es franko-belgisch zu (Spirou, Tintin, Asterix, Der rote Korsar), das meint die Bildgestaltung sowie den Erzählstil, wobei die Beiträge ausnahmslos von deutschsprachigen Autoren und Zeichnern stammen.

Die Comicforen haben so ihre Probleme mit der Einordnung des Heftes, das alle zwei Monate erscheint. Björn Wiele, Verlagschef und Herausgeber des Magazins, meinte in einem Foreneintrag, Ziel sei es, das neue Magazin »möglichst professionell« zu halten. Haben wir also ein Comichochglanzmagazin mehr? Wiele dazu: »Dem ist (…) nicht so. Das einzige, was an Graphica professionell ist, ist der Vertrieb. Das Magazin selber entsteht neben meiner normalen Arbeit und meiner Familie.« Obwohl der Wiele-Verlag kein Comicimperium ist, sind Heftlayout und Druck gut, die Bildgeschichten von Qualität, und dass ich über das Heft stolpern musste, um es zu erwerben, tja, mit Stolpern lernten wir einst laufen, oder?

Comic ist natürlich, wie jede andere Literaturgattung auch, immer politisch und wird gern und gewissenhaft ideologisch verwanzt. Das laste ich der Graphica nicht an. Nehmen wir nur das allgemeine Woken-Kuckucksheim. Plötzlich ist in der englischen Fassung der Schlümpfe der Schwarzschlumpf lila! Obelix wird wohl bald im Format »Das große Abnehmen« auftreten. Doch es geht auch anders. In der ersten Graphica-Ausgabe findet sich Timo Stoffregens Geschichte »Into the wild«, ganz ohne Sprechblasen und Text. Ein Büroangestellter sitzt im Großraumbüro. Er ist recht müde und der Sekundenzeiger der Bürouhr dreht wie in Trance seine Runde im Kreis. Die Augenlieder des Angestellten sind schwer wie ein kanadischer Holztransporter in der Kurve. Da kann man schon mal wegrutschen, also einnicken, um wenige Millisekunden später schreckgepeinigt wiederzuerwachen. Puh, niemand hat das Schläfchen bemerkt. Aber die entfremdete Lohnsklaverei am Bildschirm hört nicht auf. Wieder dieser kanadischer Holztransporter, der hypnotische Sekundenzeiger … Der Mann erwacht in einem Blockhaus, irgendwo in den Rocky Mountains oder im Thüringer Wald, ist ja fast das gleiche. Wie es weitergeht, verrate ich nicht. Das wäre unfair. Immerhin kann man die Hefte nachbestellen. Wegen der Inflation kostet das Heft tatsächlich weniger als ein Apfel und ein Ei. Für Fazitverliebte: Klare Empfehlung!

Graphica, Nr. 4, erschienen am 20.2.2024, Wiele-Verlag Hamburg, 32 Seiten, 3,95 Euro

Nachbestellungen und Abo unter: wiele-verlag@gmx.de

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