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Aus: Ausgabe vom 04.03.2024, Seite 2 / Inland
Klassenjustiz

»Schlag ins Gesicht für psychisch Erkrankte«

Mannheim: Freispruch und Geldstrafe nach tödlichem Polizeieinsatz gegen Ante P. Ein Gespräch mit Sevda Can Arslan
Interview: Silke Makowski
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Solidaritätsdemonstration für den getöteten Ante P. (Mannheim, 7.5.2022)

Am 2. Mai 2022 wurde Ante P., der in einer psychischen Ausnahmesituation war, bei einem brutalen Polizeieinsatz getötet. Am 1. März 2024 wurde ein beteiligter Beamter freigesprochen, der andere zu einer Geldstrafe verurteilt. Wie bewerten Sie das Urteil?

In Mannheim starben in eineinhalb Jahren drei Menschen durch tödliche Polizeigewalt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir den nächsten Toten betrauern müssen. Um so wichtiger ist es, dass wir uns als Zivilgesellschaft organisieren und für die Rechte von Menschen in psychischen Krisensituationen eintreten. Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es macht ihnen klar, dass ihr Leben in Mannheim nicht sicher ist.

Schon vor der Verkündung hatte sich ein mildes Urteil abgezeichnet. Woran wurde das deutlich?

Von Anfang an zeigte sich das Gericht voreingenommen, und bei der Verteidigung der angeklagten Polizisten und bei der Staatsanwaltschaft waren Rassismus und Ableismus (Diskriminierung wegen körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung, jW) unübersehbar. Der Richter verkürzte den Prozess um einen Tag mit der Begründung, »keine Zeit verschwenden« zu wollen. Das sendete bereits klare Signale.

Wie war die mediale Wahrnehmung des Prozesses?

Vor allem die Lokalpresse übernahm weitgehend die Sichtweise der Mannheimer Polizei. Der Mannheimer Vorsitzende der Berufsvereinigung »Gewerkschaft der Polizei«, Thomas Mohr, hatte von Anfang an Narrative gesetzt, die viele Medien unreflektiert wiedergaben. Dazu gehörte in erster Linie eine Täter-Opfer-Umkehr, nämlich die Behauptung, Ante P. sei aggressiv gewesen, weshalb die Beamten in Selbstverteidigung gehandelt hätten. Mohr diffamierte die Bewohner des Viertels als »Klientel mit einem gespaltenen Verhältnis zum Staat«. Etwas kritischer war die Berichterstattung in bundesweiten Medien. Ein kurzes nachdenkliches Zögern in der Bewertung der Abläufe war außerdem nach dem dritten tödlichen Polizeieinsatz im Dezember 2023 spürbar.

Sie haben den Prozess als »Initiative 2. Mai« intensiv begleitet. Welche Unterstützung hatten Sie dabei?

Wir wurden von rund 20 Menschen unterstützt, die die Prozesstermine regelmäßig begleiteten. Einige von ihnen brachten bereits Erfahrung in Prozessbegleitung und juristisches Fachwissen mit. Nicht zuletzt für die Angehörigen von Ante P., die als Nebenklägerinnen auftraten, war es sehr wichtig, dass solidarische Menschen im Gerichtssaal waren und nicht nur Polizeibeamte. Wir waren auch in engem Kontakt mit anderen Gruppen, die Fälle tödlicher Polizeigewalt aufarbeiten. Diese Vernetzung und der Erfahrungsaustausch haben uns sehr geholfen und unsere Öffentlichkeitsarbeit erleichtert. Die Prozessbeobachtung selbst hat uns viele Kapazitäten gekostet und war auch emotional anstrengend. Die Wucht der Staatsgewalt, die dir in einem solchen Verfahren entgegenschlägt, ist schlichtweg umwerfend.

Sehen Sie eine generelle Zunahme von tödlicher Polizeigewalt, vor allem gegen migrantisierte Menschen und Menschen in psychischen Ausnahmesituationen?

Es gibt keine Statistiken dazu, so dass es schwer einzuschätzen ist. Ob Fälle überhaupt wahrgenommen werden, hängt immer vom Engagement lokaler Initiativen ab. Durch die Wirtschaftskrise haben wir es aber allgemein mit steigender Repression zu tun, die sich gegen marginalisierte, migrantisierte und linke Bewegungen richtet.

Für Sie ist der Fall mit dem Urteil keineswegs abgeschlossen. Was planen Sie für die kommenden Wochen?

Am 15. März, dem Internationalen Tag gegen Polizeigewalt, veranstalten wir zusammen mit einem breiten Bündnis eine Kundgebung auf dem Mannheimer Marktplatz. Hier werden Angehörige mehrerer Menschen, die in den vergangenen Jahren durch Polizeigewalt getötet wurden, sprechen. Mit der Veranstaltung wollen wir deutlich machen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem.

Wird es eine Revision des Urteils geben?

Eine Revision ist sehr kostspielig, aber dringend nötig. Um sie finanzieren zu können, sind wir auf solidarische Unterstützung angewiesen. Wir haben eine Spendenkampagne gestartet, um dieses Urteil nicht so stehenzulassen.

Sevda Can Arslan ist aktiv in der »Initiative 2. Mai«

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