4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 6 / Ausland
Regierungskrise in Israel

Politik mit »Meinungsumfragen«

Netanjahu würde Neuwahlen verlieren. Nur ein israelischer Sender sieht das anders.
Von Knut Mellenthin
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Ultraorthodoxe Juden protestieren gegen die Wehrpflicht (Jerusalem, 26.2.2024)

Benjamin Netanjahu hat am Donnerstag vor Neuwahlen, die von vielen Israelis befürwortet oder sogar gefordert werden, gewarnt. Sie würden, so der israelische Premierminister in einer Fernsehansprache, zur Lahmlegung der Regierungsarbeit und zum vorzeitigen Ende der Kriegführung im Gazastreifen führen. Neuwahlen seien der Traum Irans, der Hamas und der libanesischen Hisbollah. Die Öffnung von Wahllokalen würde außerdem zu emotionalen und politischen Spaltungen bei den Streitkräften führen und die Soldaten von ihren Aufgaben ablenken, »und das, wo wir dem Sieg so nah sind«.

Hintergrund der Warnung ist eine drohende Regierungskrise durch den Streit um eine Neuregelung der Wehrpflicht. Für die Gruppe der Charedim, im Ausland meist als »ultraorthodoxe« Juden bezeichnet, die nach offiziellen Statistiken etwa 13,5 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmacht, gelten schon seit der Staatsgründung 1948 Ausnahmeregelungen, mit denen sie die allgemeine Wehrpflicht problemlos umgehen können. An dieser Frage könnte die derzeitige Notstandsregierung, welche die größte Oppositionspartei Nationale Einheit miteinbezieht, zerbrechen.

Fast alle Umfrageergebnisse seit Beginn des Gazakrieges zeigen, dass Netanjahu bei Neuwahlen gestürzt würde. Im direkten Vergleich mit seinem stärksten Konkurrenten Benjamin Gantz, einem ehemaligen Generalstabschef und Verteidigungsminister, der jetzt Chef der Mitte-Rechtspartei Nationale Einheit ist, würden sich nur noch 29 bis 33 Prozent für Netanjahu entscheiden, aber 46 bis 49 Prozent für Gantz. Das breite Bündnis der Netanjahu-Gegner, das zwischen Juni 2021 und Dezember 2022 das Land regierte, käme auf eine bequeme Mehrheit, während keine Konstellation möglich scheint, bei welcher der Langzeitpremier Netanjahu Regierungschef bleiben könnte. Das liegt hauptsächlich daran, dass seine Likud-Partei von derzeit 32 Sitzen in der Knesset den meisten Umfragen zufolge nur noch 18 bis 19 Mandate behalten würde. Andererseits könnte die von Gantz geführte Allianz Nationale Einheit, die in der Knesset nur mit 10 Abgeordneten vertreten ist, mit 36 bis 40 Mandaten rechnen.

So weit, so eindeutig. Aber am 14. Februar meldete die englischsprachige Tageszeitung Jerusalem Post, dass Netanjahu »langsam Unterstützung zurückgewinnt«, während der Auftrieb für Gantz nachlasse. Das Blatt bezog sich bei der überraschenden, völlig aus dem Rahmen fallenden Behauptung auf ein Umfrageergebnis des Instituts »Direct Polls«, das der israelische Privatsender Channel 14 am Vortag veröffentlicht hatte. Nach dessen Angaben läge Netanjahu aktuell bei einem direkten Vergleich mit 47 Prozent vor Gantz, für den sich nur noch 34 Prozent entscheiden würden. Bei Neuwahlen könne der Likud mit 28 Mandaten rechnen, die Nationale Einheit lediglich mit 26. Mit 59 der 120 Sitze in der Knesset wäre Netanjahu bei Neuwahlen nur noch um zwei Mandate von der derzeitigen Mehrheit seiner Regierungskoalition entfernt.

Hintergrund der Sensationsmeldung: Die Jerusalem Post, die von sogenannten Neocons in den USA gelenkt wurde, steht immer noch weit rechts. Der Privatsender Channel 14 ist, wie es die Neue Zürcher Zeitung am 15. Juli 2023 formulierte, »ein Sprachrohr der Rechtsaußenregierung«. Schon während der Massenproteste gegen Netanjahus geplante »Justizreform« präsentierte Channel 14 äußerst eigenwillige Umfrageergebnisse, nach denen die Mehrheit der Israelis hinter den Plänen der Regierung stehe.

»Direct Polls«, Produzent der außergewöhnlichen Zahlen, arbeitet mit Channel 14 fest zusammen. Zu deren führenden Mitarbeitern gehört mit Shlomo Filber ein ehemaliger Büroleiter Netanjahus. In den Betrugs- und Korruptionsermittlungen gegen den Premierminister agierte Filber zunächst als Kronzeuge der Anklage, hielt aber einen Teil seiner früheren Aussagen vor Gericht nicht aufrecht. Er steht deshalb jetzt selbst unter Verdacht. Anscheinend hat er sich inzwischen mit Netanjahu arrangiert.

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