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Aus: Ausgabe vom 29.02.2024, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Arbeitskampf

Ärzte auf den Barrikaden

Mediziner in Südkorea streiken gegen Reform, die ihre Arbeitsbedingungen weiter verschlechtert. Gesundheitswesen kaputtgespart
Von Martin Weiser, Seoul
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Mitglieder der Korean Medical Association demonstrieren in Seoul gegen die Pläne der Regierung (20.2.2024)

Das südkoreanische Gesundheitssystem befindet sich seit dem 20. Februar im Krisenmodus. Drei Viertel der 13.000 Assistenzärzte streiken seitdem und legen damit Krankenhäuser, Notaufnahmen sowie Kinder- und Geburtskliniken lahm. Sie protestieren allerdings nicht gegen die landesweite Aufstockung der Medizinstudienplätze an sich, auch wenn die drastische Erhöhung um 65 Prozent innerhalb eines Jahres kritisiert wird. Ohne Rücksprache mit den Ärzteverbänden hatte die Regierung Anfang Februar auch Maßnahmen beschlossen, um mehr Mediziner aufs Land und in die Fachgebiete mit Ärztemangel zu locken. Gleichzeitig will Seoul aber auch ein Ausbeutungssystem ausweiten, unter dem die Assistenzärzte bereits jetzt leiden.

Derzeit funktioniert das durchkapitalisierte Gesundheitssystem Südkoreas mit seinen 95 Prozent privaten Krankenhäusern nur dank ihnen. Sie stellen dort rund 40 Prozent aller Ärzte, erhalten aber mit weniger als 3.000 Euro im Monat für durchschnittlich 77 Wochenstunden oft weniger als den Mindestlohn. Diese Tortur müssen sie fünf Jahre durchhalten, bevor sie entweder besser bezahlte Jobs in den Krankenhäusern bekommen, oder sich selbstständig machen können. Doch die Regierung will diese Frist noch weiter verlängern und auch die Eröffnung von Privatpraxen an Bedingungen knüpfen.

Die Vereinigung der Assistenzärzte fordert deshalb eine Neuverhandlung des Reformpakets, damit ihre Arbeitsbedingungen von Präsident Yoon Suk Yeol berücksichtigt werden. Trotz des Ausmaßes des Streiks ging der Präsident jedoch nicht auf diese Forderung ein und erinnerte statt dessen daran, dass Gesundheitsversorgung ein Menschenrecht sei und er daher kein Verständnis dafür habe, dass »Patienten als Geiseln genommen werden«. Dass die Streikenden faktisch seit Jahren unter dem Mindestlohn bezahlt werden und auch die enormen Überstunden gegen das Gesetz verstoßen, interessiert Yoon wenig.

Die Erhöhung der Studienplätze ist in der Tat unumgänglich und darüber besteht ein gesamtgesellschaftlicher Konsens. Gerne wird auf die OECD-Statistik verwiesen, nach der Südkorea mit 2,6 Ärzten pro tausend Einwohner nur etwa halb so viele Ärzte hat wie beispielsweise Deutschland. Das wäre immer noch etwa so viel wie in den USA, aber auch nur die halbe Wahrheit. Denn Südkorea zählt auch die 30.000 Ärzte der traditionellen koreanischen Medizin dazu, die zum Beispiel mit Akupunktur oder Kräutermischungen behandeln. Der Ärzteverband schätzt, dass sich von den 140.000 Mediziner weitere 30.000 dank des südkoreanischen Schönheitswahns lieber als Schönheitschirurgen oder Dermatologen eine goldene Nase verdienen. Rechnet man diese beiden Gruppen heraus, halbiert sich die OECD-Zahl und liegt fast auf dem Niveau Indiens.

In Südkorea mangelt es vor allem an Kinderärzten. Laut der Tageszeitung Joongang Daily bewarben sich im vergangenen Jahr nur 33 Personen auf die 207 offenen Stellen für Assistenzärzte. Gleichzeitig sind die Notaufnahmen in der Regel kaum vollbesetzt, so dass es regelmäßig zu Todesfällen kommt. So starb letztes Jahr ein fünfjähriger Junge mit Atemproblemen, nachdem fünf Notaufnahmen sich geweigert hatten, ihn aufzunehmen, weil es keine Betten gab. In der vergangenen Woche starb in der Stadt Daejeon eine 80jährige Frau auf dem Weg ins Krankenhaus, nachdem sieben Kliniken sich geweigert hatten, sie aufzunehmen. Es ist noch unklar, ob dieser Todesfall direkt auf den Streik zurückgeführt werden kann.

Ohne starke Anreize wird sich das Problem weder bei den Kinderärzten noch in den Notaufnahmen lösen. Angesichts der weitgehenden Privatisierung des Gesundheitswesens und des großen Gefälles zwischen Metropolen und ländlichen Gebieten müsste der Staat sehr tief in die Tasche greifen, um genügend Ärzte anzuwerben. Die versprochene Investition von einer Milliarde US-Dollar ist wohl nur ein Tropfen auf den heißen Stein, schließlich muss der Staat immer mit den Privaten konkurrieren. Die Idee, einfach mehr Ärzte in den Markt zu drücken, damit diese dann notgedrungen auch in die weniger beliebten Gebiete gehen, könnte kurzfristig aufgehen. Eine langfristige Lösung ist das aber nicht.

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