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Aus: Ausgabe vom 29.02.2024, Seite 12 / Thema
Psychoanalyse

Lügnerische Träume

Margarethe Csonka war die erste und einzige lesbische Analysandin auf der Couch von Sigmund Freud. Eine »Fallgeschichte« aus Wien
Von Barbara Eder
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Heteronormative Couch? Freuds wichtigstes Arbeitsinstrument in seinem Sprechzimmer in Wien

Markante Gesichtszüge, für die Moden der Zeit ungewöhnlich kurze Haare und ein scharfer Intellekt – das sind die ersten Eindrücke, die Sigmund Freud von Margarethe »Gretl« Csonka im Frühjahr des Jahres 1919 zu Papier bringt. Die 18jährige Frau aus großbürgerlichem Haus befindet sich nicht aus freien Stücken auf der Couch des Wiener Psychoanalytikers. Ihre regelmäßigen Treffen mit einer rund zehn Jahre älteren Frau, die Freud auch als »Dame ›aus der Gesellschaft‹«¹ bezeichnete, hatten ihren Vater Aspad Csonka dazu veranlasst, einen Arzt zu konsultieren. Das Oberhaupt der wohlsituierten Wiener Industriellenfamilie aus Lemberg fürchtet um sein Ansehen: Seine Tochter trifft sich seit mehr als einem halben Jahr mit der preußischen Gräfin Bertha Hermine Leonie von Puttkamer und küsst ihr vor jedem Abschied zärtlich die Hand.

Sigmund Freud ist zu Beginn der Analyse nur wenig über sein Gegenüber bekannt. Aus der dürftigen Informationslage sollte dennoch eine psychoanalytische Meistererzählung werden, die im Jahr 1920 erstmals veröffentlicht wurde. Sie trägt den Titel »Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität« und sieht Exkursionen in ein noch unbekanntes Territorium vor. Freud gesteht sich ein, dass er bislang über keinerlei therapeutische Erfahrung mit homosexuellen Frauen verfüge, der ihm unterbreitete Auftrag erscheint ihm nur bedingt als sinnvoll: »Im allgemeinen ist das Unternehmen, einen vollentwickelten Homosexuellen in einen Heterosexuellen zu verwandeln, nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte, nur dass man dies letztere aus guten praktischen Gründen niemals versucht«², heißt es bereits auf den ersten Seiten der »Psychogenese« – und es klingt wie ein frühes Resümee zu einem unmöglichen Versuch. Trotz erheblicher Zweifel lehnt Freud die ihm zugetragene Aufgabe nicht ab – in den kargen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ist auch er auf die in Aussicht gestellte Entlohnung angewiesen.

Unheimliche Couch

Für Margarethe Csonka hat das Therapiezimmer in der Berggasse 19 von Beginn an nichts Heimeliges an sich, ihre »Talking Cure« ist fremdverordnet. Der gesellschaftliche Druck zur heterosexuellen Norm erwies sich als so groß, dass Gretls Eltern selbst auf die Wirkung einer dazumal gering geschätzten Lehre vertrauten. Wo familiäre Autoritäten »die Machtmittel der häuslichen Disziplin«³ vergeblich gegen die eigene Tochter angewandt hatten, soll nun die Analyse Wunder bewirken. Bleibt sie ohne Effekt, droht die Zwangsverheiratung – als letztes Mittel, um die Tochter auf den gesellschaftlich geachteten Weg zurückzubringen.

Sie selbst ist frisch verliebt und verspürt keinerlei Leidensdruck. Bei einem Sommerurlaub im Hotel Panhans am Semmering hat Margarethe ihre spätere Freundin Leonie von Puttkamer in Begleitung von Klara Waldmann erstmals gesehen. Zurück in Wien machte sie ihre Adresse ausfindig. Gretl wird Leonie fortan jeden Tag von der Kettenbrückengasse bis zum Naschmarkt begleiten, bei einem dieser Spaziergänge trifft das junge Paar unerwartet auf Margarethes Vater – und die Schwierigkeiten beginnen.

Dass es Margarethe »ein dringendes Bedürfnis sei, von ihrer Homosexualität befreit zu werden«⁴, kann Freud nicht im Geringsten feststellen. In seinen Aufzeichnungen lässt er sie dahingehend immer wieder indirekt zur Sprache kommen: »Sie könne sich im Gegenteil gar keine andere Verliebtheit vorstellen, aber, setzte sie hinzu, der Eltern wegen wolle sie den therapeutischen Versuch ehrlich unterstützen.«⁵ Autoritäten sind schlechte Ratgeber – nicht nur in Gesprächen über psychische Tiefenschichten. Margarethe schweigt und ihr Schweigen hat gute Gründe. Sie wird Freud auch als »alten, stinkenden Mann« bezeichnen, seine Fragen findet sie zudringlich und indiskret zugleich. Denkwürdiger noch als Gretls bisherige Beziehungen zu Frauen, über die sie nur vage Auskünfte zu erteilen bereit ist, erscheint diesem ihre aktuelle. Freud nennt Margarethes Geliebte eine »Kokotte« und unterstellt dieser, »von der Preisgabe ihres Körpers«⁶ zu leben. In Gretes Verliebtheit sieht er anfangs nicht viel mehr als den Versuch, die Freundin aus falschen Verhältnissen zu befreien, ihre Zuneigung resultiere aus »einem großen Mitleid und in der Entwicklung von Phantasien und Vorsätzen, wie sie die Geliebte aus diesen unwürdigen Verhältnissen ›retten‹ könne«.⁷

Realiter ist alles anders: Als Geliebte von Klara Waldmann und Mätresse von deren Ehemann Ernst findet Baronin Puttkammer, die einen ausufernden Lebensstil gewohnt ist, in einer Ménage à trois mehr als ein bescheidenes Auskommen. Zuerst lebt sie mit dem Ehepaar Waldmann in einem Haus in der Klöstergasse, später in einer ihr von Graf Apponyi zur Verfügung gestellten Wohnung am Arenbergring Nummer 12. Dort wird sie sich von Gretl aus Felix Saltens Roman »Josefine Mutzenbacher« vorlesen lassen, die troubadourhafte Pose der jüngeren Verehrerin imponiert. Freud bringt die Freizeitaktivitäten des lesbischen Liebespaares klischeehaft in Verbindung mit der Dekadenz des Fin de Siècle und stößt sich immer wieder am »schlechten Ruf der ›Dame‹«⁸ aus der Wiener Demimonde. Um ihre Liebe zur Gräfin wider Willen zu kurieren, muss Margarethe Csonka fünfmal pro Woche die therapeutische Praxis in der Wiener Berggasse aufsuchen. Nach jeder Sitzung trifft sie ihre Freundin Leonie heimlich im Café Herrenhof.

Befreite Liebe

Wo eine Vorliebe für mythologische Repräsentationen auf das narrative Medium der Fallgeschichte trifft, entstehen Bilder von Frauen, die mit Bühnenfiguren mehr gemein zu haben scheinen als mit realen Personen. Auf der Landkarte der Psychoanalyse verdichten sich Haustor und Trambahnhaltestelle zu einer Kartographie, die das Hier und Jetzt zufälliger Begegnungen nicht länger kennt. Freuds Detektivgeschichte über die Entstehung gleichgeschlechtlichen Begehrens stützt sich auch auf steckbriefartige Beschreibungen von Außenstehenden. Demnach soll Margarethe besonderen Gefallen daran gefunden haben, sich »öffentlich in belebten Straßen mit der anrüchigen Geliebten zu zeigen«.⁹

Wo das Liebespaar sich nicht länger verstecken will, wittert Freud eine stark ausgeprägte Schau- und Exhibitionslust; der kurze Moment des Sichtbarseins hatte jedoch andere Ursachen – und fatale Folgen: Als Gretl und Leonie auf der Straße von Arpad Csonkas zornigem Blick taxiert werden, endet dieser Zwischenfall nahezu letal. Margarethe stürzt sich über eine Mauer der nahe gelegenen Wiener Stadtbahn und kommt mit gebrochenen Rippen und einem längeren Krankenhausaufenthalt davon. Die Liebenden dürfen sich nicht offen zeigen – die gesellschaftlichen Sanktionen sind zu groß. Unter dem Vorwand, seiner Analysandin weitere Beschämungen ersparen zu wollen, bedient Sigmund Freud sich eines technischen Tricks. Er versucht die bislang versperrten Wege zu einer latent vorhandenen Heterosexualität in Margarethes Psyche freizulegen – und er tut dies, indem er dort eine bisexuelle Orientierung annimmt, wo sich eine ausschließlich homosexuelle zeigt. Insgeheim hofft der Analytiker auf eine nur schwache Ausprägung der Liebe zu Personen des gleichen Geschlechts und plädiert in paternalistischer Manier dafür, »der homosexuell eingeengten Person den bis dahin versperrten Weg zum anderen Geschlechte frei machen«¹⁰ zu wollen. Gelingt dies, dann läge es nunmehr in Margarethes Hand, die heterosexuelle Lebensform für sich zu akzeptieren.

Anders als angenommen, gestaltet sich das Freischaufeln unbewusster Verbindungen mehr als schwierig: Was verschollen geglaubt, lässt sich aus den Tiefenschichten der Psyche nicht ohne weiteres bergen. Angesichts des geringen Erfolges seiner Strategie gerät Sigmund Freud immer wieder in Erklärungsnotstand. Um darüber hinwegzutäuschen, bedient er sich eines rhetorischen Werkzeuges: Er setzt auf eine Art »Kippschalter«, mit dem man zwischen Bewusstem und Unbewusstem »switchen« kann. Legt man den Hebel im richtigen Moment um, sorgt dies für den fließenden Übergang zwischen unterschiedlichen Bewusstseinsniveaus. Freud durchforstet das Unbewusste seiner Analysandin fortan nach heterosexuellen Phantasien und Wunschvorstellungen und versucht, diese nachträglich dem Bewusstsein zu überführen. Er befragt Margarethe nach ihren Träumen und sie erfindet sie frei. Gretl spricht von einer bislang verborgenen Sehnsucht nach einer Familie und Kindern, die Erwartungshaltung ihres Gegenübers stellt sie damit mehr als zufrieden. Dem Anschein nach erfüllt sie alle Ansprüche von Eltern und Analytiker, allerdings mit dem Ziel, aus der Analyse endlich heraus- und in die freie Liebe zu einer Frau einzutreten.

Freud fühlt sich von Margarethes Träumen anfangs angesprochen – und stellt auch gleich eine »Heilung der Inversion« in Aussicht. Als der Druck endlich nachlässt, verändert Gretl jedoch die Regeln des Spiels und revidiert alle bisherigen Ausführungen zu ihrem Traumleben. Heiraten würde sie nur, »um sich der Tyrannei des Vaters zu entziehen und ungestört ihre wirklichen Neigungen zu leben«¹¹; zudem habe sie von ihrer Geliebten gelernt, dass man sexuelle Beziehungen zu Männern und Frauen gleichzeitig unterhalten könne – ob verheiratet oder nicht. In Reaktion darauf muss Freud enttäuscht feststellen, wovon Margarethe in Wirklichkeit träumt. Er sieht sich betrogen und bezichtigt sie der lügnerischen Träume.

Maskenball der Identitäten

Margarethe kämpft um ihre Geliebte – und hält bis zum Ende der Analyse stand. Freud hingegen muss erkennen, dass nicht er die primäre Liebesadresse seiner Analysandin gewesen ist und sie den Traum vom heterosexuellen Familienleben nur fingiert hat. Sich nicht länger in der Position des Vaterstellvertreters wähnend, erklärt er die psychoanalytische Übertragungsreaktion für gescheitert – eine Kränkung, die er zur Folge einer verspäteten »Rachebefriedigung« Margarethes an ihrem Vater ummünzt. Alles Weitere sei Ausdruck eines handfesten »Männlichkeitskomplexes«: Im Zuge des Vergleichs der eigenen Genitalien mit denen ihrer Brüder habe Margarethe einen »mächtigen Penisneid entwickelt, dessen Abkömmlinge immer noch ihr Denken erfüllten«¹²; ein solcher sei infolge der Zurückweisung durch die Mutter, welche die Brüder bevorzuge, noch bestärkt worden und führe zu einem unglücklich konstellierten »Triebschicksal«: Nicht die Zuneigung zu einer anderen Frau, sondern die mit dem Liebesentzug der Mutter gepaarte Ablehnung des Vaters hätten aus Margarethe eine lesbische Frau gemacht; im gesellschaftlichen Spiel der Geschlechter nimmt sie fortan die männliche Rolle ein.

Offenbar ist Homosexualität für Freud nichts, das man aus freien Stücken leben kann, eine ihrer Ursachen bestehe im »Trotz gegen den Vater«. Er trennt des Weiteren nicht zwischen dem sozialen Geschlecht, der geschlechtlichen Identifikation (Gender) und der sexuellen Orientierung einer Person, statt dessen entsteht ein fataler Kurzschluss: Freud versteht Homosexualität nicht als unabhängig vom »biologischen« Geschlecht (Sex), er vermutet sogar eine hermaphroditische Grundausstattung bei vielen Homosexuellen. Demnach erscheint ihm Margarethe auch in immer eigentümlicheren Maskeraden: »Sie wandelte sich zum Manne und nahm die Mutter anstelle des Vaters zum Liebesobjekt«¹³, schreibt Freud an einer Stelle der »Psychogenese«. Aus der geschlechterübergreifenden Identifikationen wird wenig später purer Drag: Zuerst ist die von Margarethe geliebte Frau eine, die den von ihrer Liebhaberin gehassten Bruder imitiert. Gretl selbst wird hingegen zu einer Tochter, die ihren Vater liebt, um anschließend zu einem Knaben zu werden, der eine Dame liebt. Auf diese Weise versuche sie, jene Person zurückzuerobern, die ihr der jüngere Bruder streitig gemacht habe: die Mutter. Gretls Geliebte wäre demnach nichts anderes als ein veritabler Ersatz für Vater und Mutter zugleich.

»Lebhaft, rauflustig, durchaus nicht gewillt, hinter dem wenig älteren Bruder zurückzustehen«¹⁴ – diese Eigenschaften teilt Margarethe Csonka mit Tomboys und Frauen aus der Arbeiterklasse über die Jahrhunderte hinweg. Sie verstand sich zeitlebens auch als Frauenrechtlerin und stellte sich den Geschlechterungleichheiten und Diskriminierungen ihrer Zeit mutig entgegen. Ihre politische Überzeugung ist für Freud indes nicht viel mehr als ein innerpsychischer Effekt – für die sozialen Veränderungen seiner Zeit hatte er kein besonders ausgeprägtes Sensorium. Bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zeichnete sich jedoch ein langsamer Abschied von einem dualistisch ausgerichteten Geschlechtermodell und dessen heteronormativen Beziehungsweisen ab. Im Gefolge einer erstarkenden Frauenbewegung und den homosexuellen Emanzipationsbestrebungen der aufkommenden Schwulenbewegung, erhielten bislang dominante Geschlechterbilder erste Risse. Mit der Gründung von Magnus Hirschfelds »Wissenschaftlich-humanitären Komitees« im Jahr 1897 und einem einschlägigen Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, fand die Idee vom »dritten Geschlecht« zunehmend Verbreitung. Anstelle eines dualen Modells schlug Hirschfeld eines der sexuellen Zwischenstufen und polymorphen Übergänge zwischen den Geschlechtern vor, und setzte sich für die Abschaffung des in Deutschland auf die Kriminalisierung männlicher Homosexualität ausgerichteten Paragrafen 175 ein. Im Januar 1898 legte er gemeinsam mit August Bebel eine Petition zu einer dahin gehenden Veränderung des Strafrechtes im Reichstag vor.

Fall- und andere Geschichten

Die psychoanalytische Fallgeschichte ist Bestandteil einer Erzählpraxis, die sich aus der mündlichen Weitergabe von Geschichten entwickelt hat. Aus der Rekonstruktion von Ereignissen, Träumen und Begegnungen ist eine Textsorte entstanden, in der sich literarische und wissenschaftliche Verfahrensweisen immer wieder vermischen. Der positivistische Anspruch, eine Krankengeschichte möglichst lückenlos darzustellen, wird von phantastischen Szenarien und mythologischen Referenzen konterkariert, neben messbaren Daten verhandeln Fallgeschichten auch Obsessionen und Imaginationen. Sprachliche Vielschichtigkeit ist dabei nicht bloß ästhetische Zugabe, sondern eine der Voraussetzungen für das, was bis heute psychoanalytische Erkenntnisarbeit genannt wird.

Freuds Schriften sind nicht nur von mythologischen Referenzen durchzogen. Er äußerte durchaus auch Vermutungen und Hypothesen, die sich vom heutigen Standpunkt aus als sexualwissenschaftlich progressiv einordnen lassen. In seinen »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von 1905 stellte Freud etwa Spekulationen darüber an, ob der »psychosexuelle Geschlechtscharakter« – also das gefühlte Geschlecht – und die Objektwahl – die sexuelle Orientierung einer Person – unabhängig voneinander existieren könnten, »Triebe« bezeichnete er darin auch als Abkömmlinge mythologischer Wesen.

Diese und ähnliche Erkenntnisse blieben im Fall der »Psychogenese« ohne nennenswerte Konsequenzen. Margarethes therapeutische Sitzungen endeten nach einer Sommerpause am Semmering im September 1919, am Ende blieben die meisten Fragen offen. »Ich brach also ab, sobald ich die Einstellung des Mädchens zum Vater erkannt hatte, und gab den Rat, den therapeutischen Versuch, wenn man Wert auf ihn legte, bei einer Ärztin fortführen zu lassen«¹⁵, resümiert Freud die gescheiterte Analyse – und empfiehlt anderswo ihre Fortsetzung.

Sigmund Freud hatte für die queeren Existenzweisen seiner Zeit kein ausreichendes Bewusstsein. Auch aus diesem Grund ermangelt es seiner »Fallgeschichte« nicht an sexistischen Implikationen und homophoben Unterstellungen. Die Charakterzeichnung seiner Analysandin reicht von dekadent bis latent heterosexuell. Homosexuelles Begehren bleibt darin an die Kategorie der »verfehlten Weiblichkeit« oder die des »männlichen Protests« gebunden – keineswegs aber ist sie normal und einfach da. Über die Positivität des Begehrens von Frauen verliert Freud in der »Psychogenese« nicht viele Worte, über die zeitgenössischen Codes lesbischer Liebe ebenso wenig. Für seine Interpretationen hatte die inzwischen 19jährige Gretl Csonka nur einen distanzierten Blick übrig. Fast gelangweilt reagierte sie auf die Erläuterungen des Analytikers, der sie durch das Weltmuseum der Psychoanalyse führte.

Im September 1919 ordinierte Anna Freud noch nicht in einem der Nebenzimmer der Berggasse 19, und Margarethe Csonka, deren Geschichte unter dem Pseudonym Sidonie »Sidi« Csillag mehr als ein halbes Jahrhundert später der Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte andere Sorgen. Am Vorabend der Machtübernahme der Nazis ist die homosexuelle Frau aus einer zum Katholizismus konvertierten Familie von Mehrfachdiskriminierungen betroffen, erst im Jahr 1940 gelingt ihr die Flucht aus dem seit 1938 zum »Dritten Reich« gehörigen faschistischen Österreich. Ihr Zuhause hat Margarethe Csonka auf einem Schiff für Auswanderer hinter sich gelassen – und mit ihm auch die Wiener Couchgeschichten.

Exil in Kuba

Erzwungene Nähe kann fatale Folgen haben, Seelenstriptease auch. Margarethe Csonka soll Freuds Couch in einer Mischung aus Erleichterung und Befreiung verlassen haben, rund zehn Jahre später zwingen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse dennoch zur Heirat. Im Mai 1930 vermählen sich Margarethe Csonka und Eduard Rzemenowsky von Trautenegg in Wien, nach wenigen Wochen verlangt sie die Scheidung. Die Ehe wurde am Ende nicht geschieden, sondern annulliert: Am 13. September 1938 sorgte ein Dekret der Nazis für ihre Auflösung, demnach seien »Mischehen« ungültig, wenn einer der Ehepartner vor der Hochzeit dem anderen die Zugehörigkeit zur »jüdischen Rasse« verschwiegen hatte. Da die jüdische Geschichte ihrer Familie für Gretl nie Thema war, hatte sie mit ihrem Mann nicht darüber gesprochen. Und so war sie von einem Tag auf den anderen wieder unverheiratet.

Leonie Puttkamer kehrte 1923 von Berlin nach Wien zurück. In Berlin hatte sie die Schauspielerin und Tänzerin Anita Berber kennengelernt, für die sich Margarethe Csonka später begeisterte. Auch Leonie ging eine Ehe ein, die nur von kurzer Dauer war. Nach den ersten Streitigkeiten wurde sie von ihrem Exmann Albert Geßmann, der als Präsident des österreichischen Landwirtschaftsamtes eine hohe politische Stellung innehatte, der versuchten Vergiftung bezichtigt. Im Jahr 1924 kam es zur Anklage, sie endete mit einem Freispruch für Leonie. Im August 1940 trifft sie Margarethe ein letztes Mal in Berlin, 1953 stirbt sie vor Ort.

Bereits zu Beginn des Jahres 1940 hatte sich Margarethe Csonka-Trautenegg darum bemüht, einen Platz auf einem Schiff und ein Visum für Kuba zu bekommen. Sie sah sich dazu gezwungen, die Hilfe einer Auswandereragentur in Anspruch zu nehmen und erreichte im Dezember 1940 nach mehrmonatiger Reise die karibische Insel. Die Reise verlief ostwärts. Zuerst gelangte sie von Berlin nach Königsberg, später nach Moskau. Am 18. August 1940 bestieg sie die Transsibirische Eisenbahn, Wochen später kam sie in der Mandschurei an. Margarethe reiste weiter nach Japan und überbrückte dort eine längere Wartezeit. Am 24. Oktober schiffte sie sich ein, um den Pazifik zu überqueren, am 7. November erreichte sie Honolulu, am 17. November San Francisco; Anfang Dezember folgte Balboa am Panamakanal. Dort bestieg die Emigrantin aus Wien am 24. Dezember 1940 das vorerst letzte Schiff und kam drei Tage später in Havanna an.

Die letzten Jahre des Naziregimes hat Margarethe Csonka also auf Kuba überlebt, wo sie auch ihr früheres Hobby, die Porträtmalerei, wiederentdeckte; 1949 kehrte sie über Paris nach Wien zurück und landete erneut in der Fremde. Sie hat nichts Eigenes, findet einige der von ihrem Exmann Eduard aufbewahrten Gegenstände und verkauft sie ans Dorotheum. Margarethe muss erstmals arbeiten, um zu überleben – sie gibt Sprachunterricht und lukriert kleine Einnahmen aus ihren Porträts.

Die Freiheit, zu lieben

Weite Teile ihres Lebensabends verbringt sie auf Reisen: 1966 landet sie in Florida, wo sie ihren Bruder Ernst trifft, 1976 reist sie nach Bangkok und dann erneut nach Kuba – ihre Liebe zu Frauen bleibt auch unterwegs bestehen, sie währt ein Leben lang. Anfang der Neunzigerjahre findet Margarethe Csonka mit Unterstützung von Freundinnen einen Platz in einer gemeinnützigen Einrichtung der katholischen Kirche in Wien-Schönbrunn. Im Caritas-Wohnheim für Rentnerinnen trifft sie sich mit Freundinnen und spielt Bridge, 1999 stirbt sie im hundertsten Jahr ihres Lebens.

Gretl Csonkas Biographie erzählt von einem lesbischen Leben gegen alle Widerstände, von heimlichen Lieben und den heterosexuellen Tarnungsmanövern zwischendurch: Um sich freizuspielen, erfand sie Freud gegenüber einen lügnerischen Traum, der zum Ende einer unfreiwilligen Analyse führte. Oft wird Gretls Leben auf jene vier Monate reduziert, die sie zwangsweise auf Sigmund Freuds Couch verbrachte, ihre Homosexualität konnte auch er ihr nicht nehmen. Trotzig verteidigte sie ihr gleichgeschlechtliches Begehren gegenüber dem Analytiker und ihren Eltern, die allgemein ablehnende Haltung gegenüber Homosexuellen hatte jedoch auch Margarethe internalisiert. Die Drohungen durch den in Österreich erst im Jahr 1971 abgeschafften Paragraphen 129 Ib, mit dem »Unzucht wider die Natur« von Frauen und Männern mit bis zu fünf Jahren schweren Kerkers bestraft werden konnte, blieben fast ihr ganzes Leben lang aufrecht, und Gretl drängte dies immer wieder zu großer Vorsicht. »Freud war ein Trottel«¹⁶ – so lautete ihr abschließender Kommentar zu den Wiener Therapiegesprächen. Margarethe Csonka sollte damit das letzte Wort behalten – für ein Leben, in dem sie sich die Freiheit nicht nehmen ließ, zu lieben, wen sie wollte.

Anmerkungen

1 Sigmund Freud: Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität (1920), in: ders.: Studienausgabe Band VII, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 2000, S. 257–281, hier: S. 257

2 Ebd., S. 261

3 Ebd., S. 258

4 Ebd., S. 263

5 Ebd.

6 Ebd., S. 271

7 Ebd.

8 Ebd., S. 270

9 Ebd., S. 258

10 Ebd., S. 260

11 Ebd., S. 274

12 Ebd., S. 278

13 Ebd., S. 268

14 Ebd., S. 278

15 Ebd., S. 273

16 Ines Rieder und Diana Voigt veröffentlichten im Jahr 2000 erstmals die Biographie von Margarethe Csonka, die Autorinnen sind für die Pseudonymisierung ihres Namens verantwortlich. Ihre Aufzeichnungen beruhen auf zahlreichen Interviews mit Gretl Csonka, aus denen auch dieses Zitat stammt. Vgl. Ines Rieder und Diana Voigt: Die Geschichte der Sidonie C. Sigmund Freuds berühmte Patientin, Wien 2012

Barbara Eder ist Soziologin und Publizistin aus Österreich.

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  • Leserbrief von Ulla Ermen (29. Februar 2024 um 17:02 Uhr)
    Vielen Dank für den interessanten Einblick in das Leben von Margarethe Csonka. Dennoch finde ich es schade, dass auch in diesem Beitrag Sigmund Freud und die Psychoanalyse wieder einmal benutzt werden, um auf die Grenzen seiner Persönlichkeit und seiner Theorien hinzuweisen. Warum muss man Freud immer wieder da aufrollen, wo er »scheiterte«. Schließlich ist jeder Wissenschaftler Kind seiner Zeit und seiner sozialen Stellung. Freud hat mit seiner Entdeckung des Unbewussten und der Traumdeutung als Zugang zu verdrängten und unbewussten Schichten menschlicher Persönlichkeit und vieles mehr Grundlagen für eine Wissenschaft gegeben, die bis heute nicht an Allgemeingültigkeit verloren hat. Wer sich aufhängt an seinen Geschlechtertheorien, bleibt auf dem Nebenschauplatz, dem Nebenwiderspruch, stehen. Freuds Theorien sind übertragbar, ohne verfälscht zu werden.
    Eine große Wissenschaft ist niemals unpolitisch, sondern wirkt auf allen Ebenen. So haben gerade die fortschrittlichen Soziologen die Theorien von Freud anerkannt (z. B. »Frankfurter Schule«). Freud steht mit Darwin, Marx, Engels u. a. in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung. Hinter der »Revolution der Psychoanlyse« (Marthe Robert) stand ein mutiger Mensch, ein ehrlicher und großartiger Wissenschaftler und ein wunderbarer Schriftsteller.

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