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Aus: Ausgabe vom 26.02.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Faschismusdebatte

Nicht nur Regierungswechsel

Ekkehard Lieberam über den Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart
Von Herbert Münchow
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»Schreckensregiment gegen die Massen« mit »Hilfe der Massen«: Ein Aufmarsch irgendwo in Nazideutschland

Droht eine Entwicklung hin zum Faschismus, sind wir gar schon mittendrin? Diesen Fragen geht Ekkehard Lieberam in seinem nun zusammen mit anderen Texten veröffentlichten Vortrag »100 Jahre Faschismusdebatte« nach, der im Rahmen eines politischen Bildungsabends in Leipzig gehalten wurde. Das Thema ist politisch und theoretisch ungebrochen brisant: In Zeiten aggressiver Kriegspolitik und reaktionären Staatsumbaus beobachten wir einen geradezu inflationären Gebrauch des Faschismusbegriffs. Damit im Zusammenhang steht die Umdeutung des Begriffs Antifaschismus, der so weit ausgehöhlt wurde, dass ihn sogar eine bürgerliche Regierung für sich in Anspruch nehmen kann.

Die Analyse des Faschismus durch seine Gegner verlief, wie Lieberam zeigt, immer kompliziert und widersprüchlich. Seine antikapitalistische Pose und seine Massenbasis versperrte nicht wenigen Faschismustheoretikern die Sicht auf den Klassencharakter des Faschismus. 1933 kam es zu einem »Schreckensregiment gegen die Massen selbst, mit Hilfe der Massen errichtet«, wie Hans Günther schrieb. Der Faschismus war eine Sache des Monopolkapitals (oder von Fraktionen des Monopolkapitals). Seine Massenbasis fand er im Kleinbürgertum sowie in Teilen der Arbeiterklasse mit geringer politischer Klassenbildung.

Früh schon zeigte sich eine Ausbildung des Faschismusbegriffs zu einem Kampfbegriff: Jede reaktionäre Politik und Organisation wurde als faschistisch etikettiert. Umgekehrt nutzt die bürgerliche Ideologie die Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit des Faschismus, dessen konstante Merkmale zu verneinen. Lieberam sieht fünf Merkmale, auf die der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 besonders einging. Zentral sei die Enthüllung des Klassencharakters des Faschismus, die Erhellung wesentlicher Zusammenhänge zwischen Faschismus und Kapitalismus. Ebensowichtig ist, dass der Faschismus einen Staatsformwechsel und keinen bloßen Regierungswechsel bedeutet. Vor allem gilt: Die faschistische Diktatur wurde installiert, um einen imperialistischen Raubkrieg vorzubereiten und letztlich eine Revolution zu verhindern. Faschismus ist Kriegspolitik und eng mit der Vorbereitung eines imperialistischen Raubkrieges verbunden, betont der Autor. Allerdings könne man die faschistische Diktatur nicht schlechthin als »die« terroristische Diktatur bezeichnen. Eine Militärdiktatur etwa, die nicht mit Hilfe der Massen errichtet wird, sei auch terroristisch.

Der »historische Faschismus« wurde 1945 besiegt, aber die Wurzeln des Faschismus existieren weiter. Die vielfach zu hörende Rede von der drohenden Abschaffung »der Demokratie« in der Bundesrepublik ist für Lieberam indes ein Beleg für die Unfähigkeit vieler Linker, die bestehende bürgerliche Demokratie als vom Monopolkapital derzeit bejahte Form der Kapitalherrschaft zu erkennen und den in ihrem Rahmen stattfindenden Demokratieabbau zu kritisieren. Die AfD charakterisiert Lieberam als eine »rechtskonservative Partei mit neonazistischen Einsprengseln«. Eine faschistische Partei sei sie nicht, jedoch könnten nicht wenige ihrer Politiker und Anhänger in der Bundesrepublik bestehenden faschistischen Netzwerken zugeordnet werden. Und: »Die AfD ist nicht nur ein politischer Konkurrent, sondern auch ein potentieller Partner der CDU/CSU.« Sie wird den Parlamentarismus nicht beseitigen, jedoch deutlich weiter nach rechts ausrichten.

Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Darlegungen zur Demokratie als »konservative Lebensform« (Marx) der Kapitalherrschaft. Man könne heute nicht über Faschismus sprechen, ohne über den Zustand der parlamentarischen Demokratie als aktuelle Staatsform der Kapitalherrschaft nachzudenken und zu reden. Das Monopolkapital wolle die bürgerliche Demokratie als Herrschaftsform funktionstüchtig halten, selbst durch den Einbau diktatorischer Elemente. Das könne sich durchaus wieder ändern. Eine faschistische Massenpartei aber, die die bürgerliche Demokratie beseitigen will und kann, ist für Lieberam in der heutigen BRD ebensowenig in Sicht wie ein Monopolkapital, das auf eine terroristische Diktatur nach dem Vorbild des Nazifaschismus hinarbeitet. Freilich sei der Übergang zur terroristischen Diktatur auf Zeit für den Fall einer ernsten politischen Krise bereits vorgesehen.

Ekkehard Lieberam: 100 Jahre Faschismusdebatte (Schriftenreihe des Forums Gesellschaft und Politik e. V.). Pad-Verlag, Bergkamen 2023, 97 Seiten, 6 Euro, Bezug über: pad-verlag@gmx.net

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