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Aus: Ausgabe vom 26.02.2024, Seite 7 / Ausland
Gaza Diplomatie

»Wenn das kein Völkermord ist«

Holocaustvergleich: Linke Regierungen Lateinamerikas stellen sich hinter Lula
Von Volker Hermsdorf
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Propalästinensiche Unterstützer Lulas in São Paulo (24.2.2024)

Die diplomatische Krise zwischen Brasilien und Israel hat sich am Wochenende weiter zugespitzt. Statt seine Äußerung über Israels Vorgehen im Gazastreifen zurückzunehmen, legte Präsident Luis Inácio Lula da Silva nach. Zuvor hatte er auf einem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union erklärt, was »mit dem palästinensischen Volk geschieht«, habe es bisher nur einmal gegeben, nämlich »als Hitler beschloss, die Juden zu töten«. Der israelische Außenminister Israel Katz erklärte den Staatschef flugs zur »Persona non grata«, bis er die Erklärung zurücknehme. Der ultrarechte Regierungschef Benjamin Netanjahu warf Lula vor, eine »rote Linie« überschritten zu haben, und versicherte, seine Regierung werde »bis zum totalen Sieg« kämpfen.

Als Reaktion darauf präzisierte Lula seine Aussage: »Was die israelische Regierung dem palästinensischen Volk antut, ist kein Krieg, sondern Völkermord. Sie ermorden Kinder und Frauen«, sagte er am Freitag (Ortszeit) in Rio de Janeiro. »Dort sterben keine Soldaten, sondern Menschen in Krankenhäusern. Und wenn das kein Völkermord ist, dann weiß ich nicht, was Völkermord ist«. Auf den gegen ihn erhobenen Vorwurf, er habe Israels Krieg im Gaza unzulässigerweise mit dem Holocaust verglichen, erwiderte Lula, man dürfe dies nicht isoliert vom Kontext seiner sonstigen Erklärungen interpretieren. Er werde seine Worte nicht zurücknehmen, denn »es kann nicht sein, dass Menschen nicht verstehen, was in Gaza passiert«, wo seit Oktober vergangenen Jahres über 30.000 Menschen getötet, 70.000 verletzt und zwei Millionen vertrieben wurden, beklagte er.

Seinen Kritikern entgegnete Lula, es gebe »heute eine Menge Heuchelei« in der Welt. »So wie ich, als ich im Gefängnis war, sagte, dass ich keinen Deal akzeptieren würde, um aus dem Gefängnis zu kommen, dass ich meine Freiheit nicht gegen meine Würde eintauschen würde, sage ich heute: Ich werde meine Würde nicht gegen eine Lüge eintauschen. Ich bin für die Schaffung eines freien und souveränen palästinensischen Staates, der in Harmonie mit dem Staat Israel existiert«, so der Staatschef auf X. Lula bekräftigte zudem, dass Brasilien entschlossen sei, eine Reform des Sicherheitsrates der UNO voranzutreiben, da dieser seiner Meinung nach »nicht demokratisch« agiere, wegen Missbrauchs des Vetorechts »keine Entscheidungen« treffe und »nichts für den Frieden« tue. Bislang sind in dem Gremium drei Resolutionen für einen Waffenstillstand gescheitert.

Mehrere lateinamerikanische Staatsoberhäupter unterstützen Lula. Er sei von Israel zur unerwünschten Person erklärt worden, »weil er die Wahrheit über den Völkermord an dem tapferen palästinensischen Volk gesagt hat. Die Geschichte wird denen, die dieser Barbarei gleichgültig gegenüberstehen, nicht verzeihen«, erklärte Boliviens linker Präsident Luis Arce. Auch dessen kolumbianischer Amtskollege Gustavo Petro wies darauf hin, dass »im Gazastreifen Tausende von Kindern, Frauen und ältere Zivilisten feige ermordet werden«. Lula habe darüber »nur die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit muss verteidigt werden, sonst wird uns die Barbarei vernichten«. Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel, bescheinigte Lula, »auf der richtigen Seite der Geschichte« zu stehen.

Die Expertin für internationale Politik an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM), Monica Velasco Molina, geht davon aus, dass Lulas provokante Holocaustäußerungen wohlüberlegt waren. Der erfahrene Politiker habe damit zum einen Druck auf die internationale Gemeinschaft ausüben wollen, da die multilateralen Organisationen angesichts des Debakels im Gaza völlig unwirksam und ineffizient seien, so die Professorin gegenüber dem russischen Nachrichtenportal Sputnik. Zum anderen habe Lula offenbar versucht, »die jüdische Bevölkerung zur Selbstreflexion zu bewegen, und zwar nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt«. Schließlich sei es eine Aufforderung an die europäische Gemeinschaft und insbesondere an Deutschland, das Südafrikas Völkermordvorwurf vor dem Internationalen Gerichtshof als »unbegründet« bezeichnet hat, ihre Positionierung im Nahostkonflikt zu überdenken.

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