Waffen oder Soldaten
Von Reinhard LauterbachIn der Diskussion über verschärfte Einberufungsregeln hat die ukrainische Regierung einen neuen Sündenbock entdeckt. Der Fraktionschef der Präsidentenpartei »Diener des Volkes« im ukrainischen Parlament, David Arachamija, machte am Donnerstag in Kiew folgende Rechnung auf: Je mehr Waffen der Westen der Ukraine liefere, desto weniger Soldaten müsse sie rekrutieren. Und umgekehrt.
Die Äußerung Arachamijas ist die jüngste Blüte einer seit Monaten andauernden Debatte über verschärfte Einberufungsregeln für das ukrainische Militär. Mit der Sache hat sie aber wenig zu tun, denn das Problem der Rekrutierung neuer Soldaten steht in der Ukraine seit Monaten im Raum, schon lange bevor die US-Militärhilfe an Kiew ins Stocken geraten ist. Diskutiert wird über eine halbe Million neuer Rekruten, vielleicht auch 800.000, um die Verluste durch den Krieg auszugleichen. Die Regierung sagt, sie stütze sich auf Anforderungen von seiten der Armeeführung, insbesondere des früheren Oberbefehlshabers Walerij Saluschnij; dieser aber hatte noch in dieser Woche erklärt, von ihm stamme die Forderung nach einer halben Million Rekruten nicht.
Das Schwarze-Peter-Spiel kommt daher, dass diese Mobilisierung in der ukrainischen Gesellschaft unpopulär ist. Selbst Militärkommandeure räumen ein, dass die zum Kampf gegen Russland motivierten Männer schon längst zu den Fahnen geeilt seien – und zum großen Teil inzwischen mit Fahnen über dem Sarg zurückgekehrt sind. Die neu Einberufenen dagegen seien durchweg schlecht ausgebildet und unmotiviert. Inzwischen werden auch Menschen mit diversen Behinderungen gezogen: gehörlose oder mobilitätseingeschränkte Menschen könnten doch ohne weiteres noch Drohnen steuern, heißt es aus dem Verteidigungsministerium.
Um dieses Thema systematischer anzugehen, zirkuliert seit Ende 2023 der Entwurf eines neuen Mobilisierungsgesetzes zwischen Parlament und Regierung. Ständig werden neue Entwürfe veröffentlicht, die das eine oder andere Teilproblem zu lösen versprechen – um den Preis, ein anderes zu schaffen. Zum Beispiel hat der ukrainische Bankenverband Alarm geschlagen, als der Vorschlag aufkam, Männern, die vor der Einberufung ins Ausland geflohen sind, die Konten zu sperren. Das führe dazu, dass auch keine laufenden Kredite mehr bedient werden könnten, und dann säßen die Banken auf Bergen »notleidender« Forderungen. Die Bevölkerung macht sich auf diese Diskussion ihren eigenen Reim und hat begonnen, massiv Bargeld von den Konten abzuheben.
Einen ähnlichen Einwand erhob der ukrainische Arbeitgeberverband. Er wies darauf hin, dass seit Kriegsbeginn immer weniger Männer bereit seien, eine legale Arbeit anzunehmen. Denn die Unternehmen sind verpflichtet, Einberufungsbescheide für ihre Beschäftigten entgegenzunehmen und an diese weiterzuleiten. Der Ökonom Olexij Kuschtsch machte dieser Tage die Rechnung auf, dass einige hunderttausend potentielle Steuerzahler inzwischen in die Schattenwirtschaft abgewandert seien und so »jede Verbindung zu den staatlichen Strukturen abgebrochen« hätten. Generell gilt die Faustregel, dass für einen Einberufenen vier bis fünf Leute im Hinterland arbeiten und Steuern zahlen müssen. Das eröffnet ein weites Feld für den Handel mit Unabkömmlichkeitsbescheinigungen.
Vor diesem Hintergrund wird auch die innerukrainische Diskussion darüber, wie mit den ins westliche Ausland geflohenen Männern umgegangen werden soll, immer hektischer. Ein Abgeordneter von »Diener des Volkes« schlug am Dienstag vor, diese Leute automatisch auszubürgern. Wer nicht dienen wolle, möge »durch die Theiß (den Grenzfluss zu Ungarn, jW) schwimmen und sich eine neue Staatsbürgerschaft suchen«.
Die ganze Diskussion kumuliert sich mit dem Frust der kämpfenden Soldaten und ihrer Familien. Vor kurzem gab es in Winniza eine Demonstration von Frauen unter der Parole: »Soldaten ablösen, Verweigerer einziehen«. In den sozialen Netzwerken ergoss sich eine Welle von Hohn und Hass über die entsprechenden Postings. Die Teilnehmerinnen seien wohl die Ehefrauen der – als notorisch korrupt verschrienen – Einberufungsbeamten gewesen, schrieben User. Aber auch: »Wäre es nicht einfacher, Frieden zu schließen?«
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