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Aus: Ausgabe vom 23.02.2024, Seite 15 / Feminismus
Rezension

Biopic einer Widerständigen

Pınar Selek im Gespräch: Die antimilitaristische Feministin über Repression des türkischen Staats und den Kampf dagegen
Von Gitta Düperthal
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Unterstützung für die politisch Verfolgte vor Gericht in Istanbul (13.12.2012)

Zunächst hätte man meinen können, es erwarte die Leserin eine Art Heldinnenepos. Was sicherlich der großen Zuneigung zuzuschreiben ist, die Verfasser Guillaume Gamblin für die Protagonistin seines Buchs empfindet. Pınar Selek ermutige alle, die in sozialen Kämpfen aktiv seien, »durch ihren Wagemut, ihren unbeugsamen Willen, die Ungerechtigkeit, die Gewalt und alle Formen der Herrschaft zu bekämpfen«, heißt es in seiner Einleitung. Im Verlauf der Lektüre des essayistischen Werks, das Resultat intensiver Gespräche mit Selek ist, zeigt sich auch: Durch die Nähe des Autors zu ihr wird der kämpferische und zugleich verletzliche Charakter der 1971 in Istanbul geborenen antimilitaristischen und feministischen Widerstandskämpferin und Wissenschaftlerin aus der Türkei deutlich spürbar.

Die aktuell seit mehr als 25 Jahren durch die Justiz des türkischen Staats verfolgte Selek inspiriert zudem mit ihrer ganz eigenen Philosophie: wie sie die Menschen ihres Umfeldes ohne Vorurteile betrachtet, allen auf Augenhöhe und mit weitgehendem Solidaritätsgedanken begegnet. Dies führt zur Erkenntnis, wie wichtig es ist, auch füreinander zu sorgen. Von Gamblin unaufdringlich moderiert, zieht die Soziologin mit Schilderungen ihrer Kämpfe in Istanbul an der Seite von Straßenkindern, Prostituierten, Kurdinnen und Armeniern in den Bann. Zu erfahren ist: Ihr außergewöhnlich stimmiges Theorie-Praxis-Verhältnis geht so weit, dass sie mit den Kindern auf der Straße nächtigt und ihnen Geschichten vorliest. Ob als Jugendliche oder später als Wissenschaftlerin: Sie sieht es als Aufgabe, in politisch aktivistischen Gruppen Widerstand zu organisieren. Wir erfahren von ihrer Lenin-Lektüre mit 15 Jahren, von studentischen Demos und Treffs der revolutionären Jugend in einer Zeit, als noch die bleierne Atmosphäre des Militärputsches von 1980 auf der türkischen Gesellschaft lastet. Gamblin ordnet mitunter detailverliebt in die Zeitgeschichte ein: Leserinnen und Leser werden mit fesselnden Episoden mitten ins Geschehen hineingezogen.

Dieser historisch und politisch hintergründige Lesestoff zur Entwicklung Seleks führt vor Augen, wie eine fundierte libertäre Geisteshaltung durch ein Beziehungsgeflecht zu gleichermaßen davon geprägten Persönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit entsteht. Kostprobe ihrer klaren antimilitaristischen Haltung: »Wenn man beginnt, Waffen zu benutzen, muss man sich in eine Struktur wie bei einer Armee begeben.« Sie kenne »keine anarchistische Transformation«, die sich hierauf stütze.

Seleks Buch »Barışamadık« (Wir konnten uns nicht versöhnen) las der Repräsentant und Mitbegründer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, 2004 in der Haft und bat sie, der kurdischen Bewegung Orientierung zum Aufbau des Friedens zu geben. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet dieser überzeugten Pazifistin begegnete der türkische Staat mit der frei erfundenen Anschuldigung, angeblich Anstifterin eines terroristischen Attentats auf einem Istanbuler Gewürzmarkt gewesen zu sein. Wie vielen Oppositionellen wurde auch ihr die »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« der PKK unterstellt. Ihr Weg kreuzte sich auch mit dem des 2007 ermordeten armenischen Menschenrechtlers und Chefredakteurs der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink. Er nannte sie voller Respekt und liebevoll frotzelnd »die Unverschämte« – siehe Buchtitel. Ausgeblendet bleiben nicht ihre dunklen Phasen: Folter im türkischen Knast, spätere Einsamkeit und Unsicherheit im Exil in Frankreich.

Brisante Aktualität: Am 29. September 2023 fand in Istanbul eine Anhörung vor dem Höchsten Gerichtshof statt. Selek war nicht anwesend, der Prozess wurde auf den 28. Juni vertagt. Das Gericht beantragte erneut ihre Auslieferung. »Feministinnen, Antimilitaristen und Anarchistinnen arbeiten derzeit an einer internationalen Kampagne, um die Öffentlichkeit zu informieren und eine internationale Delegation zum Prozess hin zu organisieren«, so Lou Marin, Übersetzer des Buchs, gegenüber jW. Ziel sei auch, den Blick auf das politische Unrecht der türkischen Justiz und des Erdoğan-Regimes zu lenken. Das Buch könnte einen Beitrag leisten, eine Solidaritätswelle für die politisch verfolgte Aktivistin und Wissenschaftlerin auszulösen.

Guillaume Gamblin: Die Unverschämte. Gespräche mit Pinar Selek. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2023, 228 Seiten, 20,90 Euro

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