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Aus: Ausgabe vom 23.02.2024, Seite 8 / Ausland
Armut und Bildung

»Kinder sterben noch heute an Unterernährung«

Guatemala: Organisation für arbeitende Kinder wird 35 Jahre alt. Ein Gespräch mit Ricardo Garcia
Interview: Thorben Austen
GUATEMALA.JPG
Traurige Realität: Kinderarmut (Guatemala-Stadt, 11.6.2012)

Ihre Organisation CEIPA besteht jetzt seit 35 Jahren. Sie betreiben Schulen und bieten Ausbildungsmöglichkeiten für arbeitende Kinder an. Was führte 1989 zur Gründung?

Damals herrschte in Guatemala noch Bürgerkrieg, der 36 Jahre lang andauerte bis 1996. Viele Kinder wurden dadurch zu Waisen, es starben auch mehr Kinder als Erwachsene. Das liegt daran, dass ein Großteil der Opfer bei Massakern ums Leben kam, bei denen die Armee ganze Dörfer niedergebrannt hatte. Ende 1986 haben wir begonnen, mit Professoren der San-Carlos-Universität und mit Unterstützung von UNICEF eine Studie zur Situation arbeitender Kinder zu erstellen. Dann begannen wir mit Alphabetisierungs- und Gesundheitsprogrammen. Viele Kinder hatten und haben auch heute noch gesundheitliche Probleme aufgrund von Unterernährung. Wir trafen damals Absprachen mit den Kindern: Wenn sie Zeit in Bildung investieren, bezahlen wir das Mittagessen, dann brauchen sie dafür nicht mehr zu arbeiten. Mit zwölf Kindern begann dann die Arbeit von CEIPA in einer Kirche in Quetzaltenango.

Wie ging es weiter?

Nach zwei Jahren mussten wir die Kirche verlassen, der Bischof wollte das Projekt nicht fortführen, und wir mieteten Räumlichkeiten an. Wir fragten die Kinder, welche Unterstützung sie bräuchten und sie sagten: Wir müssen nach der Schule einen Beruf lernen. So begannen wir den Jugendlichen verschiedene handwerkliche Berufe beizubringen, etwa Bäcker, Tischler, Schneider. Heute sind wir in fünf Departamentos tätig, haben etwa 1.000 Schüler in unseren Schulen. Dank Spenden konnten wir Grundstücke kaufen.

Sie sagten, der Bischof wollte nicht, dass Sie die Arbeit fortsetzen. Gab er dafür Gründe an?

Sozialarbeit sei Aufgabe von Sozialarbeitern, nicht der Kirche, so in etwa äußerte er sich damals. Ich habe eine tiefgehende befreiungstheologische Ausbildung, habe mich immer sozial und politisch organisiert, für mich macht das die Kirche aus. Ich habe selbst mit vierzehn angefangen zu arbeiten, kenne manche Probleme der Jugendlichen aus eigener Erfahrung. Aber viele Kollegen in der Kirche haben eine andere Lebensrealität. Ich wurde häufig von der Kirchenleitung ausgebremst, meine Arbeit zur Organisierung von Jugendlichen sei eine »kommunistische Tätigkeit«. Und natürlich muss man klar sehen, dass die Kirche eine der drei zentralen Herrschaftsinstitutionen in Guatemala ist.

Welche anderen sehen Sie?

Bildung und Medien. Es gibt keine freie, demokratische Bildung, weder an der Schule noch an der Universität. Sie ist politisch motiviert und soll den Individualismus fördern: Ich allein muss mich voranbringen, Kollektivität und Solidarität zählen nicht. Und die Medien gehören den Familien der Oligarchie.

Es wird deutlich, dass Ihre Arbeit auch sehr politisch ist. Wie wirkt sich das aus?

Wichtig ist uns, eine umfassende Bildung zu vermitteln. Die gibt es in Guatemala nicht, auch nicht bei Menschen, die formell hochgebildet sind. Wenn es mit unseren Schülern um das Thema Armut geht, sagen sie im wesentlichen zwei Dinge: Die Reichen sind reich, weil sie fleißig sind, und ihre eigene Armut ist der Wille Gottes. Da gilt es, viel Wissen zu vermitteln über die Ursachen der Armut, die Kolonialgeschichte, dass die Eroberer Arbeitskräfte wollten. Gesundheit und Bildung für die indigene Bevölkerung waren ihnen egal. Und das gilt bis heute noch für die Oligarchie. 1989 dachten wir, wir brauchen CEIPA zehn Jahre, dann hat sich das Thema Kinderarbeit erledigt. Doch die Situation ist heute teilweise schlimmer als in den 1980er Jahren. Kinder sterben in Guatemala, jetzt, jeden Tag, an Unterernährung und heilbaren Krankheiten.

Haben Sie Kontakte zur aktuellen sozialdemokratischen Regierung von Bernardo Arévalo und seiner Partei Semilla?

Wir haben ein Treffen mit Arévalo und Abgeordneten gehabt. Es gibt zwar die Hoffnung, dass sich manches jetzt bessert, aber wir denken, Arévalo kann vieles nur anschieben. Der Prozess der Veränderung, den Guatemala braucht, wird 20 bis 30 Jahre dauern. Vier Jahre sind da sehr wenig Zeit.

Ricardo Garcia ist Gründer und ­Direktor von CEIPA (Centro Ecuménico de Integración Pastoral)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (22. Februar 2024 um 23:39 Uhr)
    In Darfur, Sudan, stirbt statistisch gemäß UNO und NGOs alle zwei Stunden ein Kleinkind, meistens an Hunger oder Krankheit. In Palästina ist es ähnlich, wobei dort Kinder meistens von der israelischen Armee ermordet werden und diejenigen, die überleben, nun an Unterernährung oder Mangel an medizinischer Hilfe sterben. Aber was kümmerts uns, solang wir genug zum Fressen und Saufen haben …

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