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Aus: Ausgabe vom 22.02.2024, Seite 2 / Inland
Repression nach G20-Gipfel in 2017

»Die Auflagen sind eine Art Eingeständnis«

Justiz bietet Angeklagten in Rondenbarg-Prozess Deal an, um Strafe zu entgehen. Ein Gespräch mit Gabi Müller
Interview: Kristian Stemmler
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Unterstützer der Angeklagten demonstrieren in Hamburg (5.12.2020)

Im Rondenbarg-Prozess, in dem es um Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017 geht, hat das Landgericht Hamburg das Verfahren gegen zwei Angeklagte eingestellt. Gegen Sie und einen weiteren Angeklagten wird das Verfahren fortgeführt. Wie kam es dazu?

Noch am ersten Prozesstag wurde uns allen ein Deal angeboten: Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldbuße und eine Distanzierung von Gewalt auf Demonstrationen. Drei Tage vor dem dritten Verhandlungstag, dem Tag, an dem wir die Entscheidung mitteilen mussten, wurde der Deal seitens des Gerichts konkretisiert. Wer darauf eingehe, brauche nicht einmal mehr zum kommenden Prozesstag anzureisen. Es wurden explizite Beträge für die Geldbuße genannt und hinzugefügt, dass eine allgemeine Distanzierung von Gewalt ausreiche, der Zusatz »auf Demonstrationen« also wegfallen kann – was angesichts unserer Prozesserklärung etwas absurd ist. Schließlich betonen wir ja darin, dass gerade die Gewalt dieses Systems uns auf die Straße treibt.

Warum haben Sie die Auflagen der Staatsanwaltschaft abgelehnt, die anderen beiden diese aber angenommen?

Wir wären gern zusammengeblieben. Wir haben viel überlegt, wie wir die Belastung, die ausschlaggebend war, gemeinsam auffangen können. Es ist uns nicht geglückt. Eine Angeklagte wurde zusätzlich mit ihrem Aufenthaltsstatus erpresst. Ihr Engagement in einem legalen kurdischen Verein ist dem deutschen Staat seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Die drohende Abschiebung in die Türkei mit all ihren Folgen, die sich dort für Aktivistinnen und Aktivisten ergeben, ist nun hoffentlich bald vom Tisch.

Ansonsten bleibt die Lage die gleiche. Es geht um eine massive Einschränkung des Demonstrationsrechts, wie es in den 1960er Jahren erkämpft wurde. Das gilt es zu verhindern, auch wenn es anstrengend ist. Wir bekommen unsere Freiheiten nun mal nicht geschenkt. Eine Einstellung wäre eine Vertagung der Frage, und die Auflagen sind eine Art Schuldeingeständnis. Wir haben gute Chancen, die wollen wir nutzen.

Welche persönlichen Belastungen ergeben sich für Sie aus der Fortführung des Prozesses?

Wir müssen weiterhin viel Zeit freischaufeln, die uns dann leider an anderer Stelle fehlt – ob im Privat- oder Berufsleben. Selbstverständlich ist es nicht einfach, von der Lohnarbeit freigestellt zu werden, die Stunden vor- und nachzuarbeiten, oder aber eine neue Stelle unter diesen Bedingungen zu finden. Abgesehen von diesem Aufwand stellt sich aber eine Routine ein, und die erste Aufregung legt sich. Finanziell werden wir zum Glück von Solistrukturen wie der Roten Hilfe unterstützt.

Mit welchem Urteil rechnen Sie?

Das ist für unsere Seite gerade noch schwer absehbar. Auch wenn man sich fragt – unter anderem aufgrund von Erfahrungen in anderen Prozessen – inwiefern das Urteil schon gefällt ist. Derzeit ist aber für uns noch alles denkbar: von einem Freispruch über eine individuelle bis hin zu der anvisierten gemeinschaftlichen Verurteilung. Laut der Eröffnungsrede der Richterin am ersten Tag wolle sie die Frage klären, was Protest darf, was eine sogenannte normale Demonstration ist und wo die Grenze überschritten sei.

Würden Sie bei einer Verurteilung in Revision gehen, auch mit Blick auf die Bedeutung des Verfahrens für die Versammlungsfreiheit?

Grundsätzlich ist nicht gesagt, dass jede Verurteilung eine Bedrohung der Versammlungsfreiheit mit sich bringt. Dass das Konstrukt der gemeinschaftlichen Tat und somit das Zurückdrehen der Gesetzgebung auf den Stand vor 1970 durchgeht, ist noch nicht ausgemacht. Es kann auch auf eine individualisierte Verurteilung hinauslaufen, auf Grundlage von Handlungen, die explizit den einzelnen Angeklagten zugerechnet werden, wie beispielsweise Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – bekanntermaßen ja der übliche Vorwurf, sobald man in den geringsten Kontakt mit Polizisten kommt. Also ja: Bei der Frage, ob wir in Revision gehen, wird nicht das Strafmaß allein entscheidend sein, sondern die politische und juristische Bedeutung für aktuelle und kommende Proteste.

Gabi Müller (Name geändert) ist eine der Angeklagten im sogenannten Rondenbarg-Prozess

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