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Aus: Ausgabe vom 20.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

So ist Schule

Berlinale.Ruth Beckermanns Dokumentarfilm »Favoriten« in der Sektion »Encounters«
Von Ronald Kohl
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Erzähl mir was: Kinder interviewen sich gegenseitig

»Ich wollte ein Bild der Realität großer Städte von heute zeigen«, sagte Ruth Beckermann anlässlich der Premiere ihres Dokumentarfilms »Favoriten« in der Sektion »Encounters«. Reichlich drei Jahre lang hatte sie an einer der größten Volksschulen Wiens die 25 Kinder einer Klasse beobachtet. Und deren Lehrerin.

Ilkay Idiskut ist als Tochter türkischer Eltern in Wien aufgewachsen. Wir erfahren nichts über deren Berufe, doch dürfte sich ihr Elternhaus wesentlich von dem ihrer Schützlinge unterschieden haben. Ihr Weg in einen akademischen Beruf war vorgezeichnet. Das wäre er zumindest bei einigen ihrer Schülerinnen und Schüler in deren Herkunftsländern auch gewesen. Jetzt hängt auf einmal alles davon ab, wie viel Ehrgeiz und vor allem auch Eigeninitiative sie beim Erlernen der deutschen Sprache entwickeln. Von den Eltern haben sie in dieser Hinsicht durch die Bank nicht viel zu erwarten. Fast alle Mütter sind Hausfrauen und die Väter kommen von ihren Jobs auf dem Bau oder im Dienstleistungsgewerbe total geplättet nach Hause. Das erfahren wir jedoch nur aus den Erzählungen der Kinder im Unterricht. Wir sehen keinerlei Aufnahmen von deren Familienleben, lernen nur einige der Eltern beim Gespräch mit der Lehrerin im Klassenraum kennen, den die Kamera übrigens nur sehr selten verlässt.

Viel Regie führen ließ sich deshalb schon aufgrund der Enge und der Unterrichtssituation nicht. Ruth Beckermann beschreibt ihre Anwesenheit bei den Dreharbeiten als stummes, tatenloses Hocken in einer Ecke. Danach gefragt, welche Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit dabei wach wurden, antwortet sie: »Mir ist nur wieder klar geworden, wie langweilig Unterricht ist. Vor allem Mathe. So ist Schule.«

Wer sich von dem, was vorn passiert, nicht angesprochen fühlt, kommt mitunter auf verrückte Einfälle. Die Regisseurin kaufte irgendwann allen 25 Schülern ein Handy. Telefonieren konnten sie mit den Dingern zwar nicht und auch nicht im Netz surfen, aber sie konnten filmen. Schon bald verwarf Ruth Beckermann die Idee, dieses Material zu verwenden. Die Aufnahmen waren zu banal. Dann geschah etwas, das ich fast als befreiend bezeichnen möchte.

Jedem Freund von Dokumentarfilmen wird schon nach den ersten Minuten klar, dass »Favoriten« auf Interviews verzichtet. Das gehört mittlerweile beinahe zum guten Ton (so wie es im Fußball Schiedsrichter gibt, die unbedingt ohne gelbe Karte auskommen wollen). »Favoriten« ist der erste Film, bei dem ich diese Machart bedauerlich finde, um es freundlich zu formulieren. Denn über Ilkay Idiskut, die mich so sehr an meine erste Klassenlehrerin erinnert hat, wollte ich mehr erfahren!

Hier half das pädagogische Geschick der Regisseurin. Nachdem sie die anfänglichen Handyaufnahmen der Kids als Tik-Tok-Abklatsch und damit als unbrauchbar abgetan hatte, begannen sie, mehr auf Inhalt zu setzen, sich gegenseitig zu interviewen und auch der Lehrerin Fragen zu stellen: Sie wollten es mit ihren Aufnahmen in den Film schaffen. Und genau das gehört für mich zum Kern der Story. Es geht um Selektion. Wer nicht ganz fix begreift, worauf es in einer westeuropäischen Metropole ankommt, besitzt keinerlei Aussichten auf einen Aufstieg. Es mag paradox klingen, doch aus der Klarheit und Bestimmtheit, mit der die Lehrerin dies vermittelt, zieht der Film seine Wärme. Und aus ihrer Zuneigung.

Unter Tränen berichtet sie ihrer Klasse, dass sie wegen ihrer Schwangerschaft ab dem nächsten Tag nicht mehr unterrichten darf und es nicht gelungen ist, einen Ersatz für sie zu finden.

Mit seinen rund 200.000 Einwohnern ist der 10. Gemeindebezirk Favoriten der bevölkerungsreichste Wiens. Auch wenn die im Film geschilderten Probleme typisch sind, betreffen sie doch nicht alle Volksschulen.

Auf der Homepage einer der zehn privaten Grundschulen in Favoriten fand ich bezüglich der Schulspeisung folgenden Satz: »Gesundheitlich oder religiös bedingte Sonderwünsche werden gerne berücksichtigt.«

Auch das gehört zum Bild großer Städte von heute.

»Favoriten«, Regie: Ruth Beckermann, Österreich 2024, 118 Min., »Encounters«, 19. und 25. Februar

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