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Aus: Ausgabe vom 20.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Im Schoß der Familie

Berlinale. Aslı Özges Vater-Doku »Faruk«
Von Holger Römers
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Einer hat immer Oberwasser: Faruk Özge als Faruk Özge in »Faruk«

Es ist ein Klischee, dass alte Leute wieder wie Kinder würden. Darin steckt natürlich die Wahrheit, da Altersschwäche den Gang mitunter so unsicher werden lässt wie den eines Dreikäsehochs und Demenz oft genug nach ständiger Beaufsichtigung verlangt. Das kann, objektiv betrachtet, sehr komische Züge annehmen, und Aslı Özge betont diesen Aspekt sogleich, wenn sie in den allerersten Minuten von »Faruk« ihren Vater dazu animiert, sich vor der Kamera halbnackt in kuriose Posen zu werfen. Dabei ist die in Istanbul geborene und in Berlin lebende Filmemacherin aus dem Off zu hören, wie sie dem über 90jährigen, dessen Vorname zugleich der Titel des »Panorama«-Beitrags ist, knappe Anweisungen erteilt.

Kurz darauf bekommen wir eine Szene zweimal nacheinander zu sehen, weil die Regisseurin, die bei ihrem fünften Film auch wieder für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, an der ursprünglichen Darstellung ihres Vaters etwas zu bemängeln hat. Auf diese Weise wird uns wiederum gleich zu Beginn die Hierarchie bewusst gemacht, die im Normalfall der Filmarbeit zugrunde liegt, selbst wenn die Arbeitsverhältnisse buchstäblich familiär sein mögen – woran Özge wiederum keinen Zweifel lässt, indem sie ihren Hauptdarsteller stets als »Vater« adressiert.

Dabei verstärkt der private Ton freilich das Unbehagen, das sich beim Zusehen einstellen muss, wenn ein wackliger Hochbetagter von einer Unsichtbaren herumkommandiert wird. Doch durch diese Zuspitzung macht uns Özge den Zwiespalt bewusst, der sich unausgesprochen aus der Rollenumkehr ergibt, wenn Kinder nolens volens plötzlich ihre Eltern bevormunden: Man kann wohl als Betroffener gar nicht anders, als dabei auch die mitschwingende Umkehr der ursprünglichen Machtverhältnisse wahrzunehmen.

Das alles ist bereits interessant genug, aber dieser Film gewinnt sogar noch an reizvoller Zwiespältigkeit, wenn der dokumentarische, selbstreflexive Charakter zunehmend einer lockeren, episodischen Handlung weicht, die um so dringlicher die Frage aufwirft, inwieweit die hier skizzierte Konstellation der realen Vater-Tochter-Beziehung entspricht. Nachdem anfangs noch gelegentlich Mitglieder des Filmteams und filmtechnische Gerätschaften vor der Kamera aufgetaucht sind, schließt sich in »Faruk« allmählich die vierte Wand. Allerdings bleibt Özge weiterhin aus dem Off hörbar, allerdings nur mit einigen Nachrichten, die sie auf dem Anrufbeantworter des Vaters hinterlässt.

Dabei schildert der Film den mutmaßlich realen Prozess des allmählichen Abrisses und anschließenden Neubaus jenes Istanbuler Mehrfamilienhauses, in dem Faruk eine Wohnung besitzt. Die Frage, inwiefern diese denkbar radikale Version der Gentrifizierung ganzer Wohnviertel in der türkischen Metropole tatsächlich dem offiziellen Zweck des Erdbebenschutzes dient, wird dabei ebenso angeschnitten wie die Themen Bürgerprotest, Korruption und Subventionsbetrug.

In jedem Fall geht es um Geld und um Besitz und damit um einen Aspekt des Verhältnisses zwischen den Generationen, der zwar zentral ist, aber gern diskret verschwiegen oder verschämt verbrämt wird. Um so beachtlicher wirkt, dass Özge – und sei es auch mutmaßlich in der Gestalt eines mehr oder minder fiktiven, gleichnamigen Alter egos – das Thema in diesem vielschichtigen, subtil zwischen Dokumentation und Fiktion changierenden Film auf denkbar öffentliche Weise zur Sprache bringt.

»Faruk«, Regie: Aslı Özge, BRD/Türkei/Frankreich 2024, 97 Min., »Panorama«, 20., 21. und 25. Februar

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