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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 8 / Inland
Kinderfrei leben

»Reproduktion erzeugt neue Lohnsklaven«

Das Buch »Kinderfreie aller Länder, vereinigt euch!« argumentiert für eine Existenz ohne Nachwuchs. Ein Gespräch mit Verena Brunschweiger
Interview: Barbara Eder
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Protestaktion in London (2.9.2023)

In Ihrem Buch »Kinderfreie aller Länder, vereinigt Euch!« bezeichnen Sie kinderlose Personen als verkannte Größe. Warum ist deren Handeln mitunter auch antikapitalistisch motiviert?

Kapitalismus ist ein System, das auf Konsum und Lohnsklaverei beruht: Jede Arbeiterin und jeder Arbeiter muss seine Arbeitskraft an irgendeinen Kapitalisten oder eine Kapitalistin verkaufen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Durch Reproduktion erzeugen wir neue Lohnsklaven – und das muss niemand zwangsläufig tun. Ich möchte auch keine neuen Konsumenten schaffen. Davon gibt es im globalen Norden schon viel zu viele, die wiederum den globalen Süden zerstören. Warum also noch mehr Ressourcenverbrauch und noch mehr Müll durch noch mehr Kinder in dieser Welt?

Die Klimakatastrophe ist für Sie keine hinreichende Bedingung, um sich gegen Kinder zu entscheiden. Was spricht ansonsten noch dafür?

Antinatalismus ist auch mit einem ethischen Aspekt verbunden: Es wäre kein schönes Leben auf diesem Planeten, das ich wissentlich jemandem antun würde. Was für mich persönlich am meisten zählt, ist jedoch die feministische Sache: Ich möchte dem Patriarchat nicht den größtmöglichen Gefallen tun, indem ich mich als Inkubator zur Verfügung stelle. In meiner Argumentation folge ich dahingehend Simone de Beauvoir: Sie schreibt, dass die an Frauen gerichtete Erwartungshaltung, Kinder zu gebären, auch etwas Degradierendes hat – schließlich sind wir ja keine Tiere! Dazu kommt ein gesundheitlicher Aspekt: Eine Entbindung ist schmerzhaft und mit diversen Risiken verbunden, den Gefahren von Schwangerschaften widme ich ein ganzes Kapitel – viele Frauen werden danach inkontinent, ihr Lustempfinden kann gestört sein. Die Radikalfeministin Shulamith Firestone sagte deshalb bereits zur Mitte der siebziger Jahre: »Giving birth is like shitting a pumpkin.«

Historisch ist zu beobachten, dass Frauen vor allem in Krisenzeiten in den »Gebärstreik« treten. Wie passt das zur aktuellen Lage?

Ich fordere ein klares Nein zum »Geburtenkrieg« der rechten Parteien – mit entsprechenden Konsequenzen: Ich kann nicht mit meinen fünf vegan lebenden Kindern daherkommen, wenn ich der AfD keinen Gefallen tun will. Dieser Tage stellt sich zudem erneut die Frage, ob man Kinder für einen Krieg produzieren will. Ein Freund von mir ist auf den Straßen Israels unterwegs und macht darauf aufmerksam, dass in Kriegsgebieten ein »Birth Strike« besonders sinnvoll wäre. Den herrschenden Klassen war es immer dienlich, für mehr Masse und Menschen zu sorgen, denn damit können sie ihre Kriegsmaschinerie füttern – nach dem Motto: Was sind schon ein paar tausend Menschen hin oder her?

Wie unterscheidet sich die antinatalistische Debatte in Deutschland von der in anderen Ländern?

Debatten wie »Regretting Motherhood« gingen mit unglaublichen Anfeindungen einher, das liegt auch am anhaltenden Einfluss rechter Parteien. In Deutschland ist es weitgehend so, dass sich nur Frauen zwischen 20 und maximal 35 zum Thema Antinatalismus äußern dürfen, ältere Frauen jedoch nicht – die fallen dann in den »Altweibercontainer« und verderben die Jugend! Auch in den USA werden antifeministische Strategien gegenüber kinderfreien Frauen angewandt, Gloria Steinem spricht dennoch seit rund 60 Jahren zum Thema »Childfree Life« in der Öffentlichkeit. Es wird immer wieder versucht, daraus ein »Frauenthema« zu machen. Antinatalismus ist jedoch keine geschlechtsspezifische Angelegenheit, und es wäre interessant zu sehen, wie sich der Diskurs in Deutschland weiterentwickelt, wenn man andere Sprechpositionen zulassen würde. Ich kenne etwa einen jungen sterilisierten Antinatalisten, den ich gerne an Journalistinnen vermittle – um auch mal eine männliche Position dazu zu hören. In anderen Ländern ist das nichts Exotisches. Bei der »Childfree Convention« in Kanada etwa diskutieren Menschen jeden Alters und Geschlechts über ein kinderfreies Leben – und das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein!

Verena Brunschweiger ist Philosophin und Sachbuchautorin.
Verena Brunschweiger: Kinderfreie aller Länder, vereinigt euch!, Edition Critic, Berlin 2023, 191 Seiten, 16 Euro

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  • Leserbrief von Ferdinand (20. Februar 2024 um 17:17 Uhr)
    Ich verstehe ja die emotionalen Reaktionen der Vorredner überhaupt nicht. Gerade die Kritik an der jW dafür, dass sie das Interview abdruckt, ist doch merkwürdig. Wir können in der Gesellschaft zurecht eine Verengung des zulässigen Meinungskorridors beobachten und kritisieren, dass nur noch abgedruckt wird, was nicht aneckt. Die jW stellt hierbei eine häufig erfreuliche Ausnahme dar und druckt Positionen und Meinungen aus verschiedenen Bewegungen und von Einzelpersonen ab. Warum muss man das nun der jW zum Vorwurf machen und von ihrem ideologischen Untergang säuseln? Ebenso unverständlich erscheinen die Reaktionen zu Frau Brunschweigers Thesen. Sie mögen streitbar sein, eine kurze Hintergrundrecherche im Netz offenbart aber die Beweggründe. Keineswegs geht es Frau Brunschweiger um ein Aussterben der Menschheit, sondern um die Erhöhung des Lebensstandes der geborenen Kinder. Dies ist auch gedanklich einfach nachzuvollziehen: Wenn man selbst keine Kinder kriegt, befreit einen das nicht vom Kampf um bspw. mehr Kitaplätze und bessere Bildung, die in unser aller Interesse ist. Die Kinder von heute sollen doch schließlich morgen die Welt verändern. Und gleichzeitig verschärft man das bestehende Problem nicht noch zusätzlich, weil man selbst noch Kinder bekommt. Über ihre Theorien sollte man vielleicht einfach mal nachdenken und dann eine abgewogene Antwort erwidern, anstatt der Autorin ihre eigene Existenz vorzuwerfen?
  • Leserbrief von Paul Jud aus Stühlingen (20. Februar 2024 um 13:58 Uhr)
    Was für ein unhistorisches, undialektisches, idealistisches Geschwätz von der »Philosophin« Brunschweiger! Mit wem soll das neue System denn schwanger gehen, wenn das alte aufhört, Nachwuchs zu produzieren? Man kann sich nicht einfach »gegen Kinder entscheiden«. Zum Glück, sonst kommt vielleicht noch jemand auf die Idee, sich »gegen Erwachsene« zu entscheiden.
    Die junge Generation hat doch hoffentlich so viel revolutionären Willen und Fähigkeit, dieses kapitalistische Ausbeutungssystem zu beseitigen! Und im Sozialismus wird die Frau sogar ganz befreit werden. Die bürgerlichen Geisteswissenschaften sind wirklich auf einem erbärmlich tiefen Niveau angelangt! Schon darum wird es Zeit, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (19. Februar 2024 um 20:26 Uhr)
    Meine Vorredner sind offensichtlich maskulistische Reaktionäre. Auch ich teile die Ansicht von Frau Brunschweiger und möchte meinen nie geborenen Kindern kein Leben in dieser Welt zumuten. Übrigens könnte man in der Gesamtschau auch zu dem Schluss kommen, dass genau deshalb in hochentwickelten Gesellschaften sich der Lebensbaum nach unten verjüngt und diese überaltern, denn tendenziell sind Familie und Arbeit nicht miteinander vereinbar, je weiter fortgeschritten die Zumutungen des Kapitalismus sind. Nix da von wegen, dass die höhere Bildung ursächlich für sinkende Geburtenraten ist, wie uns bspw. die Gates-Stiftung weis machen will. Wie man allerdings der Autoren quasi die rückwirkende Abtreibung nahelegen kann, erschließt sich in keiner Weise – mal ganz von der offensichtlichen Hirnrissigkeit dieser Forderung. Weiß man denn, in welche Gesellschaft die Autorin geboren wurde? Ich wurde bspw. in die DDR geboren, wo man eben keinen Geburtenstreik brauchte, weil man ja (noch) nicht im Kapitalismus lebte. Mittlerweile nervt aber dieser, real existierende, und besonders die ihn perpetuierenden Apologeten enorm. Fast möcht’ ich sagen: »Zum Glück bin ich ein alter Mann, das geht alles nichts mehr an« (Knorkator: »Alter Mann«). Leider muss ich aber wohl noch ein paar Jahrzehnte ausharren, bis ich endlich das Zeitliche segnen kann. Aber wenigstens endet mein Ast des Stammbaums ohne weitere Zweige. In your face, Capitalism!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (19. Februar 2024 um 15:44 Uhr)
    Für dieses Buch gab es in der DDR 0,30 Mark/Kilogramm bei der SERO-Annahme – als Altpapier.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (19. Februar 2024 um 08:14 Uhr)
    Warum fängt Frau Brunschweiger mit ihrer Kritik nicht bei ihren Eltern an? Hätten diese den Artikel vor Verenas Geburt gelesen, gäbe es Frau B. (und ihre Thesen) heute nicht! Aber auch sie selbst hätte Grund, sich zu kritisieren: In einem früheren Beitrag in der taz (Tschuldigung!) äußerte sie die These: Kinder schaden der Umwelt, mit jedem Kind steigen die CO2-Emissionen, und zwar um 58,6 Tonnen! Hat sie sich schon beim Rest der Menschheit entschuldigt für die Luftverschmutzung, die sie als Kind selbst angerichtet hat? – Vor einigen Jahren hätte Frau Brunschweiger durchaus auf das Beispiel der »Ein-Kind-Politik« in China verweisen können. Doch dort musste man inzwischen einsehen, dass diese Politik mehr Nachteile als Vorteile bringt und verfällt inzwischen ins Gegenteil mit der neuen »Drei-Kinder-Politik«. Neue »Lohnsklaven«, um Frau B’s Wort zu gebrauchen!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. Februar 2024 um 06:59 Uhr)
    Nun hat auch die jW den Glauben an eine gute und menschengerechte Zukunft verloren. Würde sie sonst einen so fatalistischen Quark breittreten, wie ihn Verena Brunschweiger da verzapft hat? Daran ändert auch nichts, dass sie sich Philosophin nennt und das Wort Reproduktion fehlerfrei buchstabieren kann. Wer von einer Welt ohne Kinder träumt, hat etwas ganz Wesentliches vergessen: Dass es ohne Kinder keine Zukunft gibt.
    • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (21. Februar 2024 um 11:24 Uhr)
      Na, nun kommt mal alle wieder ein wenig runter! Zum Glück werden Kinder (noch) nicht mit dem Kopf gezeugt. Und das ist auch gut so. Deshalb dürfte die Menschheit auch so schnell nicht aussterben; zumindest nicht wegen allgemeiner Zeugungsverweigerung. Im Übrigen ist das Thema alles andere als neu; siehe dazu u. a. Günter Grass (1980): Kopfgeburten – oder – Die Deutschen sterben aus.