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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 5 / Inland
Öffentliche Ausgaben

Mär vom aufgeblähten Staat

Studie: Anders als oft behauptet, sind die Sozialausgaben in der BRD im internationalen Vergleich nicht besonders hoch
Von Ralf Wurzbacher
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Was hört man immer wieder über den »Sozialstaat«? Aufgebläht, die Kosten explodieren, eine Belastung für künftige Generationen. Alles Unsinn, sagt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, das einen umfassenden Datencheck vorgenommen hat. Die Staats- und Sozialausgaben in Deutschland sind demnach weder im internationalen noch im historischen Vergleich besonders hoch. Vielmehr bewegen sie sich auf moderatem Niveau, je nach Betrachtungsweise sogar im unteren Drittel der Skala. Wer etwas anderes behauptet, »verbreitet eine Mär, die nicht durch Fakten gedeckt ist«, befand Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK, in einer Mitteilung vom Donnerstag.

In der politischen Diskussion steht die Legende seit jeher hoch im Kurs. Vornehmlich wird sie durch FDP, Union und AfD bemüht, gerade in Zeiten wie diesen, in denen es gilt, »den Gürtel enger zu schnallen«. Bei Bedarf mischt auch die SPD gerne mit. Ohne das Gerede vom »wir leben über unsere Verhältnisse« wäre die »Agenda 2010« samt Hartz IV und Riester-Rente gar nicht durchsetzbar gewesen. Aber warum verfängt das Märchen so gut, gerade dann, wenn es von namhaften Ökonomen unters Volk gebracht wird? Die Crux dabei: »untaugliche Daten«, konstatiert das IMK in seiner Analyse. Stets neue »Rekorde« erreichten die Sozialausgaben nur bei Betrachtung nominaler Geldbeträge. »Wenn etwa die Einkommen der Beschäftigten zulegen, ist es ganz normal, dass auch die Rentenzahlungen zulegen – denn diese sollen ja einen gewissen Anteil der Einkommen absichern«, schreiben Dullien und Koautorin Katja Rietzler. Relevant sei jedoch »das preisbereinigte (reale) Wachstum«, der Anstieg der Kosten »relativ zur Wirtschaftsleistung« oder im Abgleich mit anderen Industrienationen.

Wie also haben sich die öffentlichen Sozialausgaben hierzulande verändert? Inflationsbereinigt stiegen diese zwischen 2002 und 2022 um 26 Prozent. Damit liegt die BRD unter 27 OECD-Mitgliedsländern auf dem drittletzten Rang, lediglich Griechenland (17 Prozent) und die Niederlande (neun Prozent) rangieren dahinter. Ganz vorn steht Neuseeland mit 136 Prozent, gefolgt von Island (131 Prozent) und Irland (130 Prozent). Selbst die USA, die gemeinhin für ihre »soziale Kälte« bekannt sind, verzeichnen ein Plus von 83 Prozent. Nun ließe sich annehmen, dass der Aufholbedarf der anderen viel größer und Deutschland schon vor 20 Jahren übermäßig gut aufgestellt war. Deshalb stellte das IMK die staatlichen Leistungen ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dabei kommt die Bundesrepublik mit einem Anteil von 26,7 Prozent auf Platz sieben unter 18 Industriestaaten, wobei Frankreich mit 31,6 Prozent vorangeht. »Unauffällig« nennen die Forscher das deutsche Abschneiden, zumal der Vergleich mit der Schweiz (17 Prozent) oder den USA (18,3 Prozent) hinkt. In beiden Ländern ist eine private Krankenversicherung weitgehend verpflichtend, was das Bild stark verzerrt. Nimmt man alle Sozialausgaben, also öffentliche und privat getätigte, in den Blick, rückt das Feld enger zusammen – Deutschland auf Rang sieben, die USA auf Rang sechs.

Nicht spektakulärer ist das Resultat bei Messung der Staatsquote, also sämtlicher öffentlicher Ausgaben in Relation zum BIP. Mit 48,2 Prozent bleibt die BRD sogar unter dem EU-weiten Durchschnitt von 48,9 Prozent. Vor ihr sind acht Staaten positioniert, abermals angeführt von Frankreich mit 56,5 Prozent. Auch im Zeitverlauf zeigten sich »keine Auffälligkeiten«, lediglich 2023 sei die Quote »leicht erhöht« gewesen, was sich durch die Hilfspakete im Zuge der Energiepreiskrise, die Unterstützung der Ukraine und der Geflüchteten erkläre. Eine bei Neoliberalen gleichfalls beliebte Klage ist die eines vermeintlich personell aufgeblasenen Staatsapparats. Auch das hat das IMK geprüft – mit einem erhellenden Ausgang. Im Mittel der OECD-Staaten betrug der Anteil der öffentlichen Bediensteten an allen Beschäftigten knapp 18 Prozent, in Deutschland nur 10,6 Prozent. Und wie verhält es sich mit den Personalkosten? Ebenfalls »kein Anlass für Alarmismus«, so die Autoren. Christian Lindner (FDP) wird’s überhört haben.

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  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (18. Februar 2024 um 22:35 Uhr)
    Fast gleicht es einer Formel, der hiesige Staat ist immer dann sozial aufgebläht, wenn denn Gelder für Rüstung, Waffenlieferungen und/oder Subventionen und Steuererlasse für die Konzerne vorgesehen sind. Stets ist es dabei so, dass lediglich die Behauptungsebene angepeilt wird, die Macher einen Vergleich mit anderen Staaten sich schenken, dafür bequem auf der bloßen moralischen Schiene sich empörend bewegen, auf dass erst gar nicht prüfend-vergleichend vorgegangen werde. Gefühlsergüsse, genährt aus einer gehässigen Spießermoral, soll für Viele halt reichen, bei denen zudem eifrige Zustimmung besteht, die es gilt wachzuhalten und anzukurbeln. Oftmals geht hierbei die gehässige Saat auch noch auf. Und ja, es ist nun mal bequemer zu verunglimpfen, als mal sinnvoll nachzudenken. Der beste Resonanzboden sind hierbei etliche Kleinbürger sowie Teile der Hilfsarbeiter.
    • Leserbrief von Uwe Müller aus Sachsen-Anhalt - Hohenmölsen (19. Februar 2024 um 16:14 Uhr)
      Klingt ziemlich gestelzt! Ich gehöre mit meiner Firma von zehn Mitarbeitern zu den Leidtragenden der überbordenden Bürokratie. Egal, wer welche internationalen Vergleiche anfertigt. Jeder sieht doch den gewaltigen Wasserkopf, der sich im Laufe der Jahre gebildet hat und der von der jetzigen Regierung noch weiter vergrößert wird. Die Schaffung von 10.000 neuen Stellen in der Regierungsbehörden und der gigantische Ausbau des Kanzleramtes oder die über 700 Abgeordneten des Bundestages sind doch nur die Spitze des Eisberges. Aber gerade diese vom Staat bezahlten (von unserem Steuergeld) sind dann auch die besten Propagandisten der Regierungspolitik und deshalb dürfen es ruhig ein paar mehr sein. Dieser ganze Filz ist nur zu entflechten, wenn ein großer Teil der Eliten ausgetauscht wird. Wahrscheinlich löst sich das Problem schon zeitiger, denn wenn der Staat nichts mehr zu verteilen hat, fallen alle diese Müßiggänger zuerst runter. Schaun mir mal!

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