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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Free Assange!

»Die Oberschicht will ihn in den Tod schicken«

US-Auslieferungsverfahren gegen Assange: Washingtons Mordpläne und britische Klassenloyalität. Ein Gespräch mit Jacob Appelbaum
Von Ina Sembdner
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Globale Solidarität mit Julian Assange: Hier in Mexiko-Stadt am Welttag der Pressefreiheit (3.5.2022)

Sie sind ein bekannter Journalist und Aktivist gegen Überwachung und ein Kämpfer für Sicherheits- und Datenschutzrechte, und Sie sind auch Teil der Anklage, die 2020 von den USA gegen Julian Assange erhoben wurde. Weshalb?

Es gibt drei Orte in der Anklageschrift, in der »Wikileaks Associate Nummer drei« – »WLA-3« – erwähnt wird. Ich habe auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung drei öffentliche Vorträge über Journalismus und politisches Engagement und Theorien des Wandels gehalten. Das Justizministerium hat im wesentlichen Interpretationen meiner Reden erfunden, um zu versuchen, irgendeine Art von Kriminalität zu unterstellen. Das ist schrecklich ...

Könnten Sie das ausführen?

Es ist, als ob ich wüsste, dass diese verdammten Schweine vom verdammten Justizministerium unser Telefongespräch abhören. Und ich kann fast keinen Kommentar über sie abgeben, ohne dass das meinen Denkprozess beeinträchtigt, weil ich weiß, dass sie dort sitzen und darüber nachdenken, was ich sage, um mich für immer ins Gefängnis zu bringen. Es ist also ein bisschen stressig, meine Worte hier zu wählen. Aber wie auch immer, für die Teilnahme an normalen zivilgesellschaftlichen Veranstaltungen in Europa, wie z.B. das Sprechen bei einer der größten politischen Stiftungen in Deutschland, versuchen sie, eine Kriminalisierung zu erfinden.

Das Justizministerium hat verschiedene Abteilungen und eine davon heißt National Security Division. Es gibt einen sehr berühmten Bericht der ­Washington Post, der besagt, dass während der Trump-Administration die Hälfte der Nationalen Sicherheitsabteilung gegen die Strafverfolgung von Julian war und die andere Hälfte, ein extrem fanatischer rechter Haufen psychopathischer nationaler Sicherheitsfanatiker, dafür war. Und wie es bei vielen Liberalen der Fall ist, haben sie, als sie von den Faschisten unter Druck gesetzt wurden, ihren Job gekündigt und so getan, als wäre das eine Art moralische Haltung. Und als Ergebnis durften die Faschisten die Anklageschrift gegen Julian schreiben.

Was sagen Sie zu der Haltung der deutschen Regierung, dass man der britischen Justiz vertrauen könne und Großbritannien sich an die Europäische Menschenrechtskonvention halte?

Ich begrüße es sehr, dass Annalena ­Baerbock die sofortige Freilassung von Julian Assange fordert.

… bevor sie in die Regierung eintrat …

Sie können sie einfach zitieren, es spielt keine Rolle, dass sie später wortkarg wurde. Ich bin also dankbar dafür, dass die deutsche Regierung in den letzten zehn Jahren einen Raum für Journalisten geschaffen hat, um über Dinge zu schreiben, die in der englischsprachigen Welt größtenteils bedroht oder kriminalisiert wurden, wie wir in Julians Fall sehen. Davon abgesehen halte ich es für ein wenig absurd zu behaupten, dass man dem britischen System trauen kann, nachdem Stefania Maurizi aufgedeckt hat, dass der Crown Prosecution Service im Geheimen mit den Schweden zusammengearbeitet hat (siehe jW vom 9.12.2023), einschließlich der Verschleppung des gesamten Verfahrens. Belegt durch offizielle Aufzeichnungen, die von Maurizi, der italienischen Enthüllungsjournalistin, aufgedeckt wurden.

Es gibt politische Akteure bis hin zum Innenminister, es gibt vertragliche Verpflichtungen, die vom Außenministerium ausgehandelt wurden. Dann gibt es die Justiz, den Crown Prosecution Service, die Staatsanwaltschaft, und in all diesen Bereichen haben sich viele falsch verhalten. Es bleibt abzuwarten, ob sich Großbritannien tatsächlich an die Europäische Menschenrechtskonvention halten wird. Wenn wir davon ausgehen wollen, dass all das bisherige Fehlverhalten nicht als Nichteinhaltung der Konvention zählt. Julians Rechte auf ein ordnungsgemäßes Verfahren wurden verletzt, und die Vereinten Nationen haben eindeutig festgestellt, dass er Dingen ausgesetzt ist, die eine Verletzung seiner Menschenrechte darstellen, einschließlich Bedingungen, die der Folter gleichkommen.

Daher danke ich der deutschen Regierung dafür, dass sie dazu beiträgt, ein Umfeld mit einer freieren Presse aufrechtzuerhalten, als wir es im Vereinigten Königreich oder in Amerika erleben. Aber man hat eine Staatsanwaltschaft, deren Aufgabe es ist, Julian ins Gefängnis zu stecken. Als würde man ihnen vertrauen. Um was zu tun? Ihn ins Gefängnis zu bringen.

Die USA haben an einem Punkt des Prozesses erklärt, dass Assange sehr gut versorgt werde, wenn er dort vor Gericht steht. Sie kennen Ihr Land besser. Was wird wirklich passieren, wenn sie mit ihrem Auslieferungsantrag Erfolg haben?

Eine Regierung, die die Todesstrafe anwendet, hat einen unheimlichen Beigeschmack. In Amerika gibt es die Todesstrafe auf Bundesebene, aber auch in vielen Bundesstaaten ist sie vorgesehen. Und es gibt eine lange Geschichte der Central Intelligence Agency, die Menschen tötet, die sie für ihre politischen Feinde hält. Und es gibt eine Parallele im innenpolitischen Rahmen. Unter Mike Pompeo, dem früheren Direktor der CIA, ehemaligen Außenminister und engen Vertrauten der extrem rechten Trump-Regierung und Trump selbst, diskutierte die CIA in der Tat die Ermordung von Julian Assange, sie spionierten ihn aus und verletzten seine Grundrechte, einschließlich der Vertraulichkeit während der Gespräche mit seinen Anwälten innerhalb einer Botschaft.

Orte wie das Hochsicherheitsgefängnis Florence ADX, wo Menschen geknebelt und ihre Kommunikation gefiltert wird, sind das, was sie für akzeptabel halten. Offen gesagt sind sie völlig unglaubwürdig: Wenn man ein Schwein in einen Anzug steckt und es für die Todesstrafe plädiert, ist es schwer zu glauben, dass es kein Schwein im Anzug ist. Sie können keine Versprechungen darüber machen, welche Art von Strafe ein Richter verhängen oder welche Art von Strafe unrechtmäßig verhängt werden würde.

Wie viele Menschen werden in amerikanischen Gefängnissen getötet, die nicht einmal die Todesstrafe bekommen haben, ganz zu schweigen von anderen schweren Verbrechen gegen ihre Person? Und wenn man sich die angeblichen Quellen von Wikileaks ansieht, die inhaftiert wurden, dann waren sie Bedingungen ausgesetzt, die Folter gleichkommen. Sehen Sie sich Martin Luther King, Malcolm X und Fred Hampton als Beispiele an. Und ich sage es nur ungern, aber sie haben wahrscheinlich eine sanftere, angenehmere Version von dem bekommen, was auf Julian zukommen wird, weil sie wenigstens Amerikaner waren.

Doch das britische Gericht folgte diesen Bekundungen. Was ist also von der Anhörung am Dienstag und Mittwoch vor den Royal Courts of Justice zu erwarten, infolge derer möglicherweise die sofortige Auslieferung erfolgen kann?

Die Amerikaner, wenn ich so unverblümt sein darf, haben Amerika nicht umsonst gegründet, indem sie die britischen Rotröcke erschossen haben, diese unerträglichen freiheitsfeindlichen Eigenschaften, die es in der britischen Gesellschaft auch heute noch gibt. Julian ist ein Held der Arbeiterklasse und die Oberschicht will ihn in den Tod schicken. Die Briten werden alles tun, was Amerika ihnen sagt, denn das ist ihre Klassenloyalität. Der einzige Grund, warum sie etwas anderes tun würden, wäre, wenn die US-Staatsanwälte sie in irgendeiner Weise verhöhnen würden, etwa wegen ihrer Monarchie oder ihrer Tradition.

Ich möchte wirklich falschliegen. Aber Sie können für Julian keine Pressefreiheit oder grundlegende Menschenrechte in dieser Dynamik mit den britischen Gerichten und etwas, das den amerikanischen Staatsanwälten so wichtig ist, erwarten. Wenn Amerika nicht so sehr darauf drängen würde, könnten die britischen Gerichte zu einem anderen Ergebnis kommen. Aber wie es in einer E-Mail an jemanden hieß: Wir werden Sie bis zum Ende der Vorstellung (»play«) am Montag über Ihren Zugang zum Gericht informieren. Das war ein wirklich netter freudscher Ausrutscher des Staatsanwalts oder der Leute vom Gericht Seiner Majestät, denn das ist es wirklich, was es ist – ein Theaterstück.

Ich erwarte also das Schlimmste. ­Darauf läuft es hinaus.

Welche Bedeutung haben Whistleblowing, Wikileaks und – davon ausgehend – das derzeit Wichtigste: der Schutz von Assange?

Whistleblowing ist aus einer Reihe von Gründen wichtig. Einer davon ist, dass wir Menschen brauchen, die in Systemen sind, die Ungerechtigkeiten sehen. Sie brauchen eine Handlungsmethode, die es ihnen erlaubt, der Welt mitzuteilen, wie die Dinge innerhalb ihrer Organisation sind im Gegensatz zu der Wahrnehmung, die nach außen projiziert wird. Und Wikileaks basiert auf den grundlegenden Ideen von Julian Assange. Das Ziel ist Gerechtigkeit und die Methode ist Transparenz.

Beim Schutz von Assange geht es darum, zu verstehen, dass Transparenz im Dienste der Gerechtigkeit steht. Dass eine große Reaktion wegen dieser Wirkung nicht auf den Boten fallen sollte. Eine Gesellschaft, die demokratisch und legitim sein will, braucht eine informierte Bevölkerung. Julian ist so etwas wie die Pressefreiheitsversion von Mandela, und er sitzt gerade seine Zeit auf Robben Island ab. Er sollte ein freier Mensch sein und reichlich dafür belohnt werden, dass er so viele wichtige Geschichten aufgedeckt hat, die unser Verständnis der Welt, insbesondere im geopolitischen Sinne, grundlegend verändert haben, auch wenn dies viele mächtige Leute verärgert hat. Ihn zu bestrafen, hat eine abschreckende Wirkung auf andere Journalisten wie Sie und mich.

Wir dürfen nicht vergessen, dass er ein Mensch mit Menschenrechten ist und er sein Leben riskiert hat, damit wir unsere Pflicht und Verantwortung besser wahrnehmen können. Dies ist also unsere Pflicht und unsere Verantwortung. Sie spiegelt nicht nur seine Bedeutung im Leben wider, sondern auch unsere Fähigkeit, diese wichtigen Realitäten und Werte zu leben und unsere Pflichten in einer demokratischen und freien Gesellschaft zu erfüllen, wenn es so etwas in Zukunft überhaupt noch geben sollte.

»Free Assange«: Filmvorführung und Diskussion in der jW-Maigalerie ­(Torstr. 6, 10119 Berlin), Donnerstag, 22. 2., Beginn 19 Uhr. Siehe Veranstaltungsankündigungen

Jacob Appelbaum hat das anonyme Softwarenetzwerk »Tor« mitentwickelt und 2013 zusammen mit Edward Snowden an seinen Veröffentlichungen zur NSA gearbeitet. Er war Teil des journalistischen Teams des Spiegels, der im Oktober 2013 enthüllte, dass das Handy der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenfalls vom US-Nachrichtendienst abgehört wurde. Nachdem sein Team für diese Geschichte 2014 mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wurde, gab Appelbaum diesen mit einer ausführlichen Begründung im Hinblick auf die Nazivergangenheit des Stern-Gründers zurück. Darin hieß es unter anderem: »Ich bin stolz darauf, dass meine Arbeit von vielen großen deutschen Journalisten gewürdigt wird. Gleichzeitig jedoch schäme ich mich dafür, eine Auszeichnung anzunehmen, die den Namen Henri Nannens trägt. (…) Nannen ist für den Versuch, einen der größten faschistischen Massenmörder der Geschichte als unschuldig darzustellen, mitverantwortlich. (…) Wir müssen sichergehen, dass wir wichtige Details nicht vergessen oder – schlimmer noch – diese uminterpretieren. Nannen war nicht einfach ein Mitläufer, sondern eindeutig ein Mitgestalter.« Seit 2022 vergibt das Magazin nun den »Stern-Preis« für herausragende journalistische Leistungen. (si)

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