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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 1 / Titel
Siko

Kriegstaumel in München

»Sicherheitskonferenz«: Ruf nach mehr Waffen für Ukraine. China mahnt zur Diplomatie. Tausende demonstrieren gegen »NATO-Warlords«
Von Nick Brauns, München
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»Kriegstreiber unerwünscht«: Linkes Aktionsbündnis mobilisiert am Samstag gegen »Sicherheitskonferenz«

Es war der erste persönliche Auftritt von Wolodimir Selenskij auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« seit Beginn des Ukraine-Kriegs: Die »Zerstörung« der baltischen Staaten oder Polens drohe, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin nicht Einhalt geboten werde, warnte der ukrainische Präsident am Samstag vor Hunderten Regierungsvertretern, Militärs und Rüstungslobbyisten. Für das »Monster« Putin gebe es nur zwei Optionen: Entweder er lande vor dem Internationalen Strafgerichtshof oder er werde getötet, so Selenskij, der seine Rede mit dem Faschistengruß »Slava Ukraini« beendete und von den Anwesenden mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.

Vor der nahe gelegenen Feldherrnhalle demonstrierten derweil Tausende Ukrainer, unterstützt von FDP-, Grünen- und Unionspolitikern, für noch weiter reichende Waffen im NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine. »Die Krimbrücke wäre längst Geschichte, hätte die Ukraine ›TAURUS‹«, warb dort der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Florian Hahn (CSU), für die Lieferung dieser Marschflugkörper, die selbst Ziele in Moskau treffen können. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte die Frage nach »TAURUS«-Lieferung in München ausweichend beantwortete. »Die Tatsache, dass Sie kein klares Nein hören, ist schon eine Antwort an sich«, zeigte sich der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba deshalb zuversichtlich.

Am Freitag hatte Julija Nawalnaja, die Witwe des Oppositionellen Alexej Nawalny, dessen Tod in einer russischen Strafkolonie erst wenige Stunden zuvor gemeldet worden war, in einem hollywoodreifen Auftritt die im Luxushotel »Bayerischer Hof« Versammelten auf das Feindbild Putin eingeschworen. Auch der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump war in den weiteren Beiträgen präsent – wenn auch als der, »dessen Name nicht genannt werden darf«. Mit Blick auf Trumps Ankündigung einer Abkehr Washingtons von Europa beschworen US-Vizepräsidentin Kamala Harris, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Scholz die »Geschlossenheit« des atlantischen Kriegsbündnisses. »Natürlich brauchen wir mehr«, nutzte Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) unter Verweis auf Russland, aber auch die Lage im Südchinesischen Meer und in Afrika die Gunst der Stunde, um eine Erhöhung des Rüstungsetats über das Zwei-Prozent-Ziel der NATO hinaus zu fordern.

Nicht in den allgemeinen Kriegstaumel einstimmen wollte der chinesische Außenminister Wang Yi, der abermals eine diplomatische Lösung des Ukraine-Kriegs forderte, bei der sowohl die Sicherheitsinteressen Russlands als auch die der Ukraine anerkannt würden. China arbeite unermüdlich daran, den Weg für Friedensgespräche zu bereiten, so Wang, der auch auf ein Ende des Gazakriegs und die Gründung eines unabhängigen Staates Palästina als Bedingung für ein friedliches Zusammenleben drängte.

Mehrere tausend Demonstranten folgten am Samstag dem Aufruf »Kriegstreiber unerwünscht« des linken Aktionsbündnisses gegen die »Sicherheitskonferenz«. Der Vorsitzende der friedenspolitischen Soldatenvereinigung »Darmstädter Signal«, Jürgen Rose, sprach von einem Treffen der »NATO-Warlords unter Führung der USA«. Ohne NATO-Osterweiterung hätte es keinen Krieg in der Ukraine gegeben, so der Oberstleutnant a. D. Ein zentrales Thema der Demonstration war auch die Solidarität mit Palästina. Die irische EU-Abgeordnete Clare Daly prangerte die Komplizenschaft von EU und USA beim »Genozid« in Gaza an.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (20. Februar 2024 um 13:06 Uhr)
    Selenskij war schon 2022 persönlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Damals sagte er: »Ukraine has been a reliable shield for eight years. And for eight years it has been rebuffing one of the world’s biggest armies«, so die Übersetzung auf seiner Website, er sprach also davon, acht Jahre lang dem russischen Militär widerstanden zu haben. Und nun, zwei Jahre später, fragt er scheinheilig: »Would you have believed 725 days ago?« Er fragt, wer vor 725 Tagen geglaubt hätte, dass die Ukraine solange würde Russland widerstehen können. Die Antwort ist klar: 2022 glaubte Selenskij selber an die Macht der ukrainischen Streitkräfte. Selenskijs Behauptung, Russland würde weitere Staaten bedrohen, ist natürlich ebenfalls substanzlos. Es war Selenskijs Androhung einer nuklearen Aufrüstung der Ukraine vor zwei Jahren, die Russlands Eingreifen in den Donbasskrieg auslöste. Mir ist nicht bekannt, dass andere Staaten nukleare Drohungen gegen Russland äußern. Weitere Blüten aus Selenskijs Rede (ebenfalls von president.gov.ua), die für jW-Leser vermutlich keines Kommentars bedürfen: »Any Russian missile can be shot down«, »We can get our land back«, »Putin’s policy of controlled poverty have led to the fact that human life is worthless for the Russian state«, Putin »now openly justifies Hitler, absolving him of responsibility for World War II. He has made the genocide of our people«. Soweit die schlimmsten Fehltritte Selenskijs, der offenbar vieles nicht weiß oder verdrängt, etwa dass es Putin war, der Russland wieder zu Wohlstand geführt hatte. Einmal öfter zeigt sich, wie realitätsblind der Westen ist.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (19. Februar 2024 um 09:50 Uhr)
    Der Titel erweckt den Eindruck, dass die »Siko« eine geschlossene NATO-Veranstaltung war, in der hinter verschlossenen Türen ein »Kriegstaumel« stattfand. Dagegen spricht schon der Teilnehmerkreis: 50 hochrangige Staats- und Regierungschefs. Hat die NATO wirklich so viele Mitglieder, und haben die Nichtmitglieder auch »mitgetaumelt«? – Eröffnet wurde die Tagung von António Guterres, der wohlgemerkt Generalsekretär der UN und nicht der NATO ist. Er taumelte nicht, sondern er »forderte eine humanitäre Feuerpause, aber auch die Freilassung der israelischen Geiseln durch die Hamas« (»Waffenschieber unter Polizeischutz«, jW 17.02.2024). – Auch der chinesische Außenminister Wang Yi taumelte nicht, »der abermals eine diplomatische Lösung des Ukraine-Kriegs forderte, bei der sowohl die Sicherheitsinteressen Russlands als auch die der Ukraine anerkannt würden«. – Auch mit viel Phantasie kann ich mir nicht vorstellen, wie die Genannten in das ferne München gelockt werden konnten, um sie dort in einen »Kriegstaumel« der NATO einzubeziehen, ohne dass sie das merken.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (18. Februar 2024 um 20:37 Uhr)
    Analogien zu dem Sommer 1914 drängen sich dem nicht gänzlich geschichtsignoranten Zeitgenossen geradezu auf. Aber weder damals noch heute handelt(e) es sich nur um ein paar irregeleitete »Schlafwandler«. (Christopher Clark)

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