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Aus: Ausgabe vom 16.02.2024, Seite 1 / Titel
Beistandsabkommen

NATO tröstet Kiew

Waffenproduktion und Rüstungslieferungen werden beschleunigt und ausgeweitet. Dazu gibt es langfristige Beistandsabkommen und deutsche Führung
Von Arnold Schölzel
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»Hochgeschwindigkeit bei der Waffenproduktion«: Rheinmetall-Chef Armin Papperger (1. v. l.), Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius am 12. Februar in einer Halle mit »Leopard«-Kampfpanzern in Unterlüß

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg fasste am Donnerstag in Brüssel stolz die Beschlüsse der Verteidigungsminister des Paktes zur Hilfe für Kiew zusammen: Jetzt gebe es in den Mitgliedsländern eine »Hochgeschwindigkeitsproduktion« von Waffen zur Auffüllung der eigenen und der ukrainischen Arsenale. Geplant sei zum Beispiel die Lieferung von einer Million Drohnen. Im übrigen repräsentiere die NATO 50 Prozent der globalen Wirtschafts- und 50 Prozent der militärischen Macht. Das sei die Botschaft an Wladimir Putin und Xi Jinping.

Und zwar fürs Jahrhundert. Auf dem G7-Gipfel im litauischen Vilnius im vergangenen Juli hatten die Staats- und Regierungschefs des westlichen Blocks beschlossen, dass die Ukraine anstelle einer schnellen NATO-Mitgliedschaft »langfristige Sicherheitszusagen« der einzelnen Staaten erhält. Großbritannien hatte am 12. Januar den Anfang gemacht und einen auf zehn Jahre angelegten Vertrag mit Kiew geschlossen. Auf der Website des britischen Premierministers heißt es dazu so mystisch wie zukunftsgewiss: »Das totemistische Abkommen soll der ­erste Schritt zur Entwicklung einer unerschütterlichen hundertjährigen Partnerschaft zwischen der Ukraine und dem Vereinigten Königreich sein.« An diesem Freitag ziehen Berlin und Paris offenbar nach: Dort soll laut Medienberichten der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beziehungsweise mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron entsprechende Verträge unterzeichnen.

Berlin will aber Spitze beim Waffenrausch werden. Jedenfalls verkündete Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Donnerstag vor den NATO-Beratungen in Brüssel, nach Erreichen des Zwei-Prozent-Zieles müsse der deutsche Anspruch sein, zusammen mit anderen das »konventionelle Rückgrat« der Verteidigung zu sein. Zudem sei Deutschland die »logistische Drehscheibe« der NATO in Europa: »Damit übernehmen wir Führungsaufgaben.« Laut der Internetseite seines Ministeriums erklärte er zudem: »Russland ist die größte Bedrohung im euroatlantischen Raum.« Die Partner und Verbündeten müssten alles dafür tun, um Kiew zu unterstützen. Fast täglich übergebe Deutschland militärische Ausrüstung an dessen Truppe und werde 2024 voraussichtlich das »Drei- bis Vierfache« an Artilleriemunition liefern im Vergleich zu 2023. Pistorius wörtlich: »Der Krieg in der Ukraine wird am Ende auch am Fließband in den Produktionsländern der Welt entschieden.«

Entsprechende Beschlüsse hatte am Mittwoch die sogenannte Ukraine-Kontaktgruppe im »Ramstein-Format« in Brüssel gefasst. Kiews Verteidigungsminister Rustem Umjerow teilte danach auf Facebook mit, er hoffe auf mehr Flugabwehrwaffen, Artilleriemunition, Drohnen und erste westliche Kampfflugzeuge vom Typ F-16. Bei deren Einführung liege man »im Zeitplan«. Die Bundesrepublik wird demnach zusammen mit Frankreich eine »Fähigkeitsallianz« zur Luftverteidigung anführen. Nach der Soforthilfe gehe es jetzt um Langzeitfähigkeiten, erklärte Pistorius bei der Unterzeichnung der Gründungsdokumente. Er kündigte auch eine gemeinsam mit Polen geführte Koalition für Panzerfahrzeuge und weitere für Artillerie, maritime Sicherheit, Entminung und Drohnen an. Umjerow berichtete, die Allianz zur Lieferung von Drohnen werde von Lettland geführt, die für Minenräumung von Litauen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Oliver S. aus Hundsbach (16. Februar 2024 um 16:41 Uhr)
    Vor fast genau einem Jahr bin ich vom Flughafen auf Teneriffa nach Los Christianos gefahren, um von dort mit der Fähre weiterzufahren. Am Strand unweit des Hafens lief ein Betrunkener auf einer kleinen Betonmauer hektisch auf und ab, über sich ein Netz wie eine Wurfschleuder schwingend, in dem sich eine Dose Bier befand. Währenddessen wiederholte er immer wieder die Sätze: »Don’t mess up with Russia! Putin – he can do it alone!« Die Begebenheit erinnerte mich schon damals an die Szene aus Moby Dick als Ishmael und Queequeg auf die Pequod gehen und Elias seine Prophezeiung ausspricht. Wie die Geschichte für Ahab, das Schiff und die Besatzung ausging, ist bekannt. Das Schicksal Deutschlands/Europas könnte ähnlich verlaufen, wenn man die Worte und das Verhalten der maßgeblichen Politiker betrachtet, das erschreckend der Rede Ahabs an seine Crew gleicht. Ersetzt man »Moby Dick« durch »der Russe« sind Ähnlichkeiten nicht zufällig. »Tod und Teufel ihr kennt ihn alle. Es ist Moby Dick! Matrose: Käpten Ahab war es nicht Moby Dick, der Ihnen das Bein weggerissen hat? Ja, Moby Dick wars, der mich zum Krüppel gemacht hat an Leib und Seele für alle Zeiten – und ich werde ihn von Kap Horn bis hinauf in das Polarmeer verfolgen und wenn es sein muss bis in die tiefsten Abgründe der Hölle hinab. Das hab ich geschworen und geb es nie auf. Dafür seid ihr auf meinem Schiff Männer, um diesen weißen Wal über alle Meere zu jagen, ja sogar um die ganze Welt, bis er schwarzes Blut speit und tot in der See treibt!«
  • Leserbrief von Werner de Martin (16. Februar 2024 um 11:50 Uhr)
    Laut Stoltenberg »repräsentiert die NATO 50 Prozent der globalen Wirtschafts- und 50 Prozent der militärischen Macht«. Perspektivisch ist ein Schrumpfen der Wirtschafts- und Aufblähen der militärischen Macht zu prognostizieren. Üblicherweise neigen Systeme, die wirtschaftliche Schwäche mit militärischer Stärke zu kompensieren versuchen, zum aggressiveren Agieren. Geht man davon aus, dass zum Angriff ein erheblich größeres militärisches Potential als zum Verteidigen erforderlich ist, und Russland sich mit der übrigen Welt, darunter China, Saudi-Arabien, Indien, Korea, Japan, 50 Prozent der militärischen Macht teilt, bestätigt Stoltenberg mit seinen Aussagen die Position Russlands, dass die NATO, nicht Russland, ein gigantisches Bedrohungspotential präsentiert.
    Dass Deutschland die »logistische Drehscheibe«, treffender »logistische Zielscheibe« der NATO ist, sollte kein Grund zur Zufriedenheit, sondern zur Sorge sein. Logistische Knotenpunkte sind für Raketenangriffe ein bevorzugtes Ziel, auch dann, wenn die Kriegsfront weit entfernt ist. Diese Ansage von Pistorius wird Wohngrundstücke in der Nähe von militärischen Objekten oder relevanter Infrastruktur bestimmt nicht aufwerten. Die Ankündigung der erweiterten militärischen Unterstützung für Kiew kann von russischer Seit nur als Ansporn zu massiveren Militärschlägen wahrgenommen werden, um einer Erholung des ukrainischen Militärs zuvorzukommen. Am Ende wird sich das in einer höheren Zahl von Toten und Versehrten unter den Ukrainern bemerkbar machen.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (15. Februar 2024 um 22:15 Uhr)
    Seit 2008 weckt die NATO in Kiew Hoffnungen auf eine Mitgliedschaft, ohne diese jedoch konkret zu gewähren. Zu jener Zeit zählte die Ukraine noch fünfundvierzig Millionen Einwohner, und die Krim war territorial integriert. Seitdem ist viel Wasser die Dnipro hinuntergeflossen, und im Jahr 2024 handelt es sich um ein Land, das sowohl territorial als auch in Bezug auf die Bevölkerungszahl von den Wirren des Krieges gezeichnet ist, mit höchstens knapp dreißig Millionen Überlebenden. Zurückgeblieben sind vor allem die Älteren und durch den Krieg geschädigten Menschen, da die Jungen und Talentierten das Land längst verlassen haben. Heute drängt sich berechtigterweise die Frage auf, ob sich die unehrlichen und schändlichen Versprechungen überhaupt für die Ukraine gelohnt haben.

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