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Aus: Ausgabe vom 14.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Kaleidoskop des Judenhasses

Christian Geisslers Debütroman »Anfrage« in einer Neuauflage
Von Ken Merten
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Dem Tätervolk eine Wunde reißen: Schriftsteller Christian Geissler (2005)

Die Bundesrepublik kam als sogenannter Aufarbeitungsweltmeister nicht auf die Welt. Bundeskanzler Willy Brandt kniete erst 1970 in Warschau, und die US-amerikanische Produktion »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« wurde 1979 im bundesdeutschen Fernsehen ausgestrahlt und trug dazu bei, überfällige Reflexionen anzuregen. Mit »Fliegenschiss«-Debatten verschmutzt, wird die selbst angelegte Goldmedaille als Vorreiter im Abwickeln des Antisemitismus – man hat den ja bis zur Masseneliminierung selbst einmal durchexerziert – heute meist dann herausgeholt, wenn Antisemitismusbeauftragte von Berlin aus der Welt, meist der sogenannten Zweiten oder Dritten, erklären, was (struktureller) Judenhass ist.

Dass darin die Bundesrepublik weit vorne war, zeigt Christian Geisslers Romandebüt »Anfrage« von 1960, das der Verbrecher-Verlag im Rahmen der Werkausgabe Geisslers nun neu aufgelegt hat. Der Täter von einst wohnt unbehelligt als jedermanns Nachbar, über den höchstens hinter der Hand getuschelt wird, er sei »Nazi! Oder Kommunist ist der! Ganz ein Gefährlicher!« Der Warnhinweis der Hauswirtin von Hauptfigur Klaus Köhler stellt nicht nur den Umschwenk des Bildes des Bösen in den westdeutschen Köpfen aus. Das Ungefähre, den Unwillen, es genau zu wissen, findet Köhler immer wieder vor. Denn er stellt die unbequemen Fragen.

Das Ergebnis ist ein Kaleidoskop des Antisemitismus, die Form des Romans ist dabei eher Baugerüst der Montage. Auch das Ende des Prologs, in dem auf die Fiktionalität von ebenjenem, aber das Nicht-Fiktionale des Folgenden verwiesen wird, öffnet den Vorhang für dokumentarisches Schauspiel. Die ohne justitiabel-offiziellen Rahmen geführten Befragungen durch Köhler erinnern nicht von irgendwoher an Hans Magnus Enzensbergers zehn Jahre später erschienenes Stück »Verhör von Habana«. Geisslers eigenwilliger Duktus macht hier den Unterschied: Was er schreibt, ist Sprachkunst, kein Dokument; auch wenn der Inhalt seinen Recherchen entspringt und wenig davon wegbewegt worden sein mag, seine Prosa ist doch eben ein gelungen erfundenes Deutsch. Man möchte über weite Strecken von »Anfrage« eher den Gattungsnamen vorschlagen, den Köhler gegenüber dem US-amerikanisch-jüdischen Literaturwissenschaftler Mr Weismantel anführt: ein »Lehrstückchen«, minus der hier unangebrachten Verniedlichung: ein Lehrstück.

Wie Geissler ist der Physiker Köhler 1928 geboren. Letzterer ist Sohn eines an der Ostfront verschollenen SA-Offiziers, der dem Überzeugungstäter nunmehr, dreizehn Jahre nach Niederringen der Nazis, keine Fragen mehr stellen kann. Also stellt er sie allen anderen: Der naiven Sekretärin, die sich durch ein Missverständnis verrät (»›Wie die wohl ausgesehen haben‹, sagte das Mädchen. Köhler hob die Brauen: ›Wie Teufel? Glauben Sie?‹ – ›Nein, nicht die Juden – ich meine die, die es getan haben.‹ – ›Die meine ich auch!‹«), oder der Schwager eines verschwundenen Juden, Huber, für den »lebensuntüchtig« ist, wer nichts vergessen kann.

Köhlers Motivation, dem Tätervolk eine Wunde zu reißen, um dort seinen Finger zu plazieren, bekommt einen weiteren Schub von außen, als er erfährt, dass Hubers Schwager inkognito in der Stadt lebt, ein Mitglied jener Familie, in der außer ihm allesamt deportiert und ermordet wurden und in deren Haus sich nun Köhlers Fakultät befindet. Der Hausangestellte Mollwitz pflegt auch weiter die Gärten des Anwesens, und mit ihm begegnet Köhler einem, der bereut, dass er seine eigene Haut nicht in Gefahr bringen wollte und jenen die Hilfe versagte, die von den Faschisten verladen wurden.

Reue sonst ist rar gesät im Rechtsnachfolgerstaat. Statt dessen werden Debatten angerissen, die erst weit später breit diskutiert wurden und werden: Vom Antisemitismus im arabischen Raum, der teils zur Kollaboration mit den deutschen Faschisten führte, über die nicht nur in rechten Kreisen als Armee wie jede andere angesehene Wehrmacht und ihrer Verbrechen, bis zur Frage danach, wie sich der weit später vom Historiker Dan Diner bezeichnete »Zivilisationsbruch« des Holocaust damit verhält, dass die Menschheitsgeschichte eine des Fortschritts sei.

Die Figur des Kommunisten, der trotz allem an dem dialektischen Voranschreiten festhalten müsste, soll Köhlers Kollege Steinhoff sein. Kurz vor Kriegsende noch sinnlos an die Front geworfen, verliert er ein Bein, wird aber von Rotarmisten gerettet und sympathisiert fortan mit dem Sozialismus – seine Anfrage an Köhler, mit ihm gemeinsam rüber, also in die DDR zu machen, schlägt dieser aus. Für Steinhoff scheint die Massenvernichtung der europäischen Juden primär Symptom eines untergehenden Systems; ihn tangieren die Strippen­zieher hinter den Verbrechen, »ein kleiner Haufen, einflussreiches Gesindel, Geldleute, die heute schon wieder genauso spielen wie einst«. Steinhoff, in einer Republik, in der die kommunistische Partei verboten ist, gerät darüber aber eher zum Zyniker und Misanthropen. Er ist weniger Bolschewik als das mitleidlose Gegenteil eines Christen. Dass der damalige Katholik Geissler hier eher das Zerrbild eines Kommunisten gezeichnet hat, darauf verweist auch das im Anhang der Verbrecher-Ausgabe enthaltene Vorwort der bereits 1961 von Aufbau verlegten Lizenzausgabe der DDR: »Steinhoff ist kein Kommunist; er ist ein Missverständnis des Autors. So erschütternd für uns hier in der Deutschen Demokratischen Republik die beinahe inhumane Beschränktheit dieser Gestalt auch sein mag, vom Autor aus gesehen – sicher für Hunderttausende Menschen Westdeutschlands –, bedeutet sie einen ernsten Versuch der Klärung.« Der Christian Geissler, der 1967 der illegalen KPD beitritt, hätte dem sicher nicht wenig zugestimmt.

Christian Geissler: Anfrage. Mit einem Nachwort von Detlef Grumbach. Verbrecher-Verlag, Berlin 2023, 344 Seiten, 30 Euro

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