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Aus: Ausgabe vom 14.02.2024, Seite 8 / Abgeschrieben

Kulturanthropologen sorgen sich um Freiheit der Wissenschaft in Deutschland

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Masha Gessen und andere internationale Intellektuelle und Wissenschaftler wurden zu Opfern von Rufmordkampagnen in Deutschland

Die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie zeigte sich am Montag angesichts der Angriffe auf renommierte Intellektuelle und Wissenschaftler aufgrund ihrer Positionierung zum Nahostkonflikt besorgt über die Freiheit der Wissenschaft:

Als Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) beobachten wir mit großer Sorge, dass sich in Deutschland arbeitende Wissenschaftler:innen immer stärker in der Wahrnehmung ihrer Grundrechte der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen. Forschung und internationaler akademischer Austausch drohen umfassend beeinträchtigt zu werden, wenn unterschiedlich positionierte und international arbeitende Spitzenforscher:innen vermittelt bekommen, dass sie ihrer Arbeit in Deutschland nicht frei nachgehen oder öffentlich Stellung nehmen können.

Wir betonen die unbedingte Notwendigkeit, Antisemitismus, Rassismus, und Islamophobie in Deutschland und weltweit zu bekämpfen. Dies lässt sich jedoch nicht durch die Überwachung von Wissenschaftler:innen, ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihrer persönlichen Stellungnahmen erreichen, wie es nun in mehreren Fällen aus Deutschland, Österreich, und der Schweiz an uns herangetragen wurde. Wir beobachten mit Sorge, wie insbesondere Wissenschaftler:innen, die aus Diskussionskulturen im Ausland nach Deutschland kommen oder zeitlich befristete Stellen annehmen, um ihren Ruf fürchten müssen und sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen, wenn sie sich zum Israel/Palästina-Konflikt äußern. Auseinandersetzungen um den Israel/Palästina-Konflikt lassen sich nicht ausschließlich mit den Mitteln der Antisemitismustheorie oder -kritik einordnen. Es ist notwendig und legitim, historisch gewachsene politische, religiöse, kulturelle, ökonomische, ethnische und nationalistische Konfliktdimensionen mit in den Blick zu nehmen und zu diskutieren. Die Ausgrenzung von Wissenschaftler:innen, die ihre im Grundgesetz verankerte Wissenschafts- und Meinungsfreiheit wahrnehmen, darf kein Mittel der Auseinandersetzung sein; vielmehr werden dadurch notwendige Debatten verhindert.

(…) Zunehmend formen plakative Beurteilungen gesellschaftlich komplexer Konfliktdynamiken und undifferenziert erhobene Vorwürfe von Antisemitismus den demokratischen Diskurs in der Öffentlichkeit und führen zu Gesprächsabbrüchen. Zu den Kernaufgaben von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Kulturinstitutionen muss es gehören, schwierige Diskussionen in stark polarisierten gesellschaftlichen Momenten zu ermöglichen. (…)

Wir sind tief besorgt über die Angriffe, denen renommierte und international angesehene Intellektuelle wie Masha Gessen und Ghassan Hage in Deutschland ausgesetzt sind. Als Sozial- und Kulturanthropolog:innen sind wir davon überzeugt, dass die akademische und zivilgesellschaftliche Debatte in Deutschland unterschiedliche Formen der Kooperation, der Diskussion und des Dissenses benötigt, um einen beständigen Perspektivwechsel zu ermöglichen und epistemische wie politische Gewissheiten herausfordern zu können. Wir rufen dazu auf, Universitäten und Forschungsinstitutionen als Diskussions- und Begegnungsräume zu erhalten, in denen Pluralität und Widerspruch willkommen sind und unterschiedliche, an Verständnis orientierte und sorgfältig begründete Standpunkte und Perspektiven entwickelt und kritisiert werden, um voneinander zu lernen.

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