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Aus: Ausgabe vom 09.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Friedensprozess Kolumbien

Guerilla im Wiederaufbau

Kolumbien: Kämpfer der FARC organisieren sich neu und wollen tiefgreifende Reformen durchsetzen. Ein Besuch vor Ort
Von Loïc Ramirez
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Caicedo Rios und Sebastián Martínez, Mitglied der Friedensdelegation der FARC (2024)

Auf dem Weg informieren große Schautafeln den Besucher darüber, was ihn in dem Territorium erwartet, das er betritt. »Hier bauen wir weiter an Neukolumbien«, steht auf einer von ihnen. Im Hintergrund Bilder von Frauen und Männern in olivgrünen Uniformen. Alle tragen die Aufschrift: »Bloque occidental Jacobo Arenas« (Westlicher Block Jacobo Arenas), benannt nach der Militäreinheit, die Teil der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (FARC-EP) und in dem Gebiet aktiv ist. Hier sind weder Polizei noch Armee präsent. Überall tragen junge Männer und Frauen in Zivilkleidung unauffällig eine Waffe, deren Griff aus der Jeanshose ragt. Es sind Milizionäre, die städtischen Einheiten der Guerilla. »Willkommen im befreiten Gebiet«, verkündet Tomas, ein Mitglied der bewaffneten Organisation, mit großem Ernst. Wir befinden uns in dem kleinen Dorf Betulia, mehrere Kilometer von Popayán, der Regionalhauptstadt von Cauca (Südkolumbien), entfernt. Im Dezember 2023 fanden in diesem Teil des Landes die Verhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-EP-Guerilla statt, die als EMC für »Estado Mayor Central« (Zentraler Generalstab) bezeichnet wird und nach dem 2016 unterzeichneten Friedensabkommen die größte noch aktive Splittergruppe ist.

»EMC ist die Bezeichnung der Medien, wir sind die FARC-EP«, korrigiert Sebastián Martínez, Mitglied der Friedensdelegation der Guerilla, höflich. »Es gab einen Bruch mit dem vorherigen Sekretariat der FARC-EP aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über den alten Friedensprozess, was zur Trennung führte, aber wir sind immer noch dieselben mit derselben Funktionsweise.« Obwohl er die Kontinuität betont, räumt Martínez ein, dass sich die Organisation in einer Phase des »Wiederaufbaus« befindet: »2016 haben viele Guerilleros Gebiete verlassen, die später von Paramilitärs oder dem ELN (Ejército de Liberación Nacional, deutsch Nationale Befreiungsarmee; jW) besetzt wurden. Jetzt geht es darum, diese Gebiete, in denen sich unsere soziale Basis befand, wieder in Besitz zu nehmen.« Bisher bestand das Hauptziel der Guerilla darin, die Kontrolle über alle noch aktiven »dissidenten« Fraktionen in dem Gebiet wiederzuerlangen und sie unter ein einziges Kommando zu stellen, dessen oberster Vertreter heute Ivan Mordisco (mit bürgerlichem Namen Néstor Gregorio Vera Fernández) ist. Diese Vereinigungsarbeit wurde in den letzten Jahren durch Bündnisse, aber auch mit Gewalt vorangetrieben und ist noch nicht abgeschlossen. Der EMC alias FARC-EP ist immer noch ein Amalgam verschiedener bewaffneter Strukturen, die miteinander verbunden sind.

Über die Suche nach Homogenität hinaus ging es auch um eine Repolitisierung der Organisation, die viele Intellektuelle nach dem Havanna-Abkommen verlassen hatten. Caicedo Rios, der heute etwa 50 Jahre alt ist, hatte sich als Jugendlicher der Guerilla angeschlossen. Er ist eine Autoritätsperson und versichert, dass der EMC den politischen Kompass von damals beibehalten hat: »Wir sind eine kommunistische Partei in Waffen.« Rios erinnert daran, dass das Studium für alle neuen, meist sehr jungen Guerilla­rekruten weiterhin obligatorisch sei, nicht nur die körperliche oder militärische Vorbereitung. »Das ist es, was wir den ›vollständigen‹ Guerillero nennen«, sagt er. Hinzu komme die Arbeit mit der ländlichen Bevölkerung, die Unterstützungsbasis der Organisation. »Was tun wir in den Regionen? Wir bauen Krankenhäuser und Straßen, errichten Schulen und führen landwirtschaftliche Projekte durch, alles in Verbindung mit den Gemeinden.« Warum hat die Führung des EMC heute beschlossen, mit Bogotá zu verhandeln, nachdem sie den Friedensprozess von 2016 abgelehnt hatte? »Wir haben die Idee einer politischen Verhandlungslösung nie aufgegeben, das ist ein Prinzip, das in unserer Satzung verankert ist«, sagt Martínez. Es ist ein Novum, dass die Guerilla heute mit einer linken Regierung konfrontiert ist. Obwohl das »ein günstigeres Umfeld für den Dialog« schaffe, wie der Kämpfer einräumt, bringe es auch eine radikale Isolation im eigenen politischen Lager mit sich. »Die Regierung Petro ist reformistisch, aber wir sind Revolutionäre«, betont Martínez. »Wenn die Linke an die Macht kommt, hat dies oft die Folge, dass die soziale Bewegung betäubt wird, indem sie nun befürchtet, die Regierung zu behindern.« Im Gegensatz dazu sieht er die Rolle der Guerilla darin, den Druck auf die neue Regierung aufrechtzuerhalten, um möglichst tiefgreifende Reformen zu erreichen. »Die Frage ist vor allem, wie weit die Rechte die Regierung bei ihren Reformen gehen lässt. Was unterscheidet die Verhandlungen von heute von denen im Jahr 2016? Die Waffen. Der EMC wird im Gegensatz zu früheren Erfahrungen nicht abrüsten, bevor er die Einhaltung der Vereinbarungen sichergestellt hat. Das Gewehr und die Uniform gehören nicht uns, sie gehören dem Volk«, unterstreicht Caicedo Ríos. »Wir haben kein Recht, sie aufs Spiel zu setzen. Diese Waffen sind Garantien.«

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