Der Wirecard-Kronzeuge
Von Alexander ReichZum 100. Verhandlungstag im Münchner Wirecard-Prozess kam der Angeklagte Oliver Bellenhaus am Mittwoch über den Haupteingang. An den 99 Tagen davor war er durch einen unterirdischen Tunnel aus einem Zellentrakt in den Saal geführt worden. Seit Dienstag nachmittag ist Bellenhaus auf freiem Fuß. Nach 1.311 Tagen hinter Gittern. Das Gericht setzte den Haftbefehl außer Vollzug, da es nach »der geständigen Einlassung des Angeklagten und seinen Schadenswiedergutmachungsbemühungen« davon ausgeht, dass Bellenhaus weder flieht noch Taten verdunkelt. Ein Vertrauensbeweis, der den 50jährigen gewissermaßen in den Rang jenes Kronzeugen erhebt, den die Staatsanwaltschaft ihm von Anfang an zugedacht hat. Es ist seine Version der Geschichte, auf der die Anklage basiert.
Bellenhaus kann auf Strafrabatt hoffen, weil seine Ausführungen den Mitangeklagten Markus Braun schwer belasten. Der sei »ein absolutistischer CEO« gewesen, so Bellenhaus. »Markus will das so«, das sei das Ende jeder Diskussion gewesen. Auch die Erfindung von Drittpartnergeschäften in Asien habe CEO Braun »in machiavellistischer Eiseskälte« durchgezogen. Fehlende 1,9 Milliarden Euro aus diesen Geschäften ließen das BRD-Vorzeigeunternehmen im Sommer 2020 zusammenbrechen. Braun behauptet, die 1,9 Milliarden seien keinesfalls erfunden, sondern von Bellenhaus und dem flüchtigen ehemaligen Asienvorstand Jan Marsalek in eigene Taschen geschleust worden.
Die Haftentlassung des Kronzeugen ließ Brauns Verteidiger am Mittwoch schäumen. »Wie Sie hier die Verfahrensgänge verschleiern, spottet jeder Beschreibung«, bekam der Vorsitzende Richter zu hören, nachdem er die Verlesung eines gegen ihn gerichteten Befangenheitsantrags abgelehnt hatte.
Bisher ging es in dem Prozess vor allem um besagte Drittpartnergeschäfte. Unabhängige Partner sollen Onlinekreditkartenzahlungen für lokale Händler abgewickelt haben, aber das war offenkundig Humbug. Eine Zeugin aus Bangkok gab an, von Wirecard noch nie gehört zu haben. In den Firmenunterlagen des Finanzdienstleisters war sie mit Unterschrift und Passkopie als Geschäftspartnerin aufgeführt – laut ihrer Aussage ohne eigenes Wissen. Ein aus Malaysia angereister japanischer Manager nahm im Gerichtssaal verwundert zur Kenntnis, dass er in Singapur Direktor oder Gesellschafter von etwa hundert Unternehmen aus dem Wirecard-Dunstkreis gewesen sein soll. Ein britischer Manager des US-Unternehmens Visa bezeugte, dass es für in Wirecard-Unterlagen dokumentierte Kreditkartenzahlungen keine Belege im Visa-Rechnersystem gebe.
15 Jahre Haft drohen Braun wegen gewerbsmäßigem Bandenbetrug, Marktmanipulation, Bilanzfälschung und einigem mehr. Bellenhaus könnte mit der Hälfte davonkommen, auch wenn er bei dem Milliardenbetrug kein kleines Rädchen war. Der Mann aus dem fränkischen Hof stieß nach einer Lehre bei der örtlichen Raiffeisenbank mit Ende 20 zu Wirecard und wurde mit 33 Generalbevollmächtigter der Wirecard Bank. Mit 40 zog er in den 93. Stock des Burj Khalifa in Dubai, und über Nacht wurde das Emirat zum angeblich größten Gewinnbringer des Dax-Konzerns. Bellenhaus hortete schrille Nadelstreifenanzüge und schnelle Autos, nannte Geschäfts- gerne »Fickpartner« und prägte Sinnsprüche wie »Geld, Macht, PS und junge Chicks kann man nie genug haben«.
Brauns Verteidiger behaupten, hinter den drei großen »Drittpartnern« Al Alam, Payeasy und Senjo habe Marsalek gesteckt. Für die in Singapur ansässige Senjo wurde das vor Gericht von dem japanischen Zeugen bestätigt. Nach dessen Angaben gab es in der Firmengruppe für Zahlungsgeschäfte weder Mitarbeiter noch die erforderliche Technik. Dass Marsalek diese Strohfirmen mit dem Komplizen Bellenhaus betrieb, um Milliarden abzuzweigen, haben die Richter offenbar ausgeschlossen, auch wenn es Brauns Anwälte weiter behaupten. Ein Ende des Prozesses ist nicht in Sicht. Kürzlich hat das Gericht 86 weitere Verhandlungstermine bis Ende 2024 angesetzt.
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