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Aus: Ausgabe vom 08.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Südasien

Ungleiche Chancen

Pakistan: Von fairem Wettstreit der Parteien nicht viel übrig. Schon vor den Wahlen zahlreiche Unregelmäßigkeiten
Von Thomas Berger
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Landesweit sind 130.000 Männer und Frauen zum Druck von 260 Millionen Stimmzetteln im Einsatz (Peschawar, 6.2.2024)

Es könnte so aussehen, als würde alles seinen normalen Gang gehen bei den Wahlen in Pakistan. Mehr als 18.000 Kandidaten treten landesweit diesen Donnerstag an, um eines der Mandate zu erringen – über ein Drittel mehr als 2018. Was wiederum dazu führte, dass der Staat gut 2.000 Tonnen Papier zum Druck von 260 Millionen Stimmzetteln für die Nationalversammlung und die Regionalvertretungen in den vier Provinzen Sindh, Punjab, Belutschistan und Khyber-Pakhtunkhwa ordern musste. In einem guten Dutzend Wahlkreise ist es für die Stimmberechtigten mit jeweils mehr als 40 Kandidatinnen und Kandidaten besonders unübersichtlich. Die »Kandidatinnen« können oft weggelassen werden, da vielfach nur Männer antreten. Eigentlich müssten bei allen Parteien laut Gesetz mindestens fünf Prozent der Kandidaten Frauen sein. Die Mehrzahl der wichtigsten politischen Kräfte verfehlt aber selbst diese Vorgabe deutlich. Lediglich die bislang größte Oppositionspartei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) von Expremier Imran Khan (2018–2022), die sich über eine starke Benachteiligung beklagt, überbietet dieses Minimum. Unklar ist, welche Auswirkungen der mehrheitliche Bruch der Vorschrift etwa auf die Gültigkeit der Ergebnisse haben könnte.

Die Einhaltung allgemeiner Regeln, so der Eindruck vieler, scheint vor den Wahlen aber ohnehin eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zuletzt hatte unter anderem die Vizechefin der nationalen Menschenrechtskommission in aller Deutlichkeit attestiert, bei der aktuellen Lage sei eine wirklich faire Wahl nicht mehr gewährleistet. Dieser Einschätzung würden andere unabhängige Stimmen wohl kaum widersprechen. Zwar hat die Wahlkommission (ECP) landesweit 130.000 Männer und Frauen im Einsatz, damit am Wahltag bei Stimmabgabe, Auszählung und Ergebnisübermittlung alles ordnungsgemäß läuft. Doch viele Politiker und Parteien, längst nicht nur die zuallererst betroffene PTI, monieren bereits mangelnde Neutralität der Übergangsregierung unter Interimspremier Anwar ul Haq Kakar. Gleiche Vorwürfe betreffen die ECP.

Diese hatte zum Beispiel der PTI das traditionelle Parteisymbol entzogen – ihre Kandidaten müssen nun formal als Unabhängige antreten, was ihre Chancen erheblich mindert. Vor allem für die vielen Analphabeten im Land ist ihre Parteizugehörigkeit auf dem Wahlzettel nun nicht mehr einfach auszumachen, auch die Aussicht auf nach Stimmstärke vergebene Zusatzmandate ist für die PTI dahin. Die ECP begründete den Erlass mit Verstößen gegen Grundregeln innerparteilicher Demokratie – und kämpfte dies gegen Einsprüche der PTI-Führung bis zur höchsten juristischen Instanz durch. Die finale Entscheidung des Supreme Courts hat dem bisher hohen Ansehen der Obersten Richter in den Augen vieler Pakistanis sehr geschadet. Khan selbst darf ohnehin nicht antreten. Zuletzt summierten sich drei in aller Eile erlassene Gerichtsurteile gegen ihn auf 31 Jahre Haft. Zu zehn Jahren im besonders brisanten Fall um angeblichen Geheimnisverrat und 14 Jahre tags darauf in einem Antikorruptionsverwahren (jW berichtete) gesellten sich nun noch sieben Jahre wegen angeblichen Verstoßes gegen islamische Heiratsvorschriften bei der Hochzeit mit seiner dritten Ehefrau Buschra Bibi 2018.

Für 266 zu vergebende Sitze in der Nationalversammlung schickt die PTI 246 Mitglieder ins Rennen – die längste Kandidatenliste aller Parteien. Prognosen, welche Aussichten sie noch haben, sind schwierig, zumal viele prominente Namen durch behördlich verhinderte Kandidaturen diesmal fehlen. Nutznießer sind die Kräfte des Establishments. Sowohl die konservative Pakistanische Muslimliga-Nawaz (PML-N) als auch die sozialliberale Volkspartei (Pakistan Peoples Party, PPP) haben schon länger regiert – wobei sich ihre Spitzen in erster Linie selbst bereichert haben. Die Muslimliga ist das politische Vehikel der Sharifs, einer der einflussreichsten Familien des Landes. Der dreifache Expremier Nawaz Sharif, im Oktober aus dem Exil heimgekehrt und mittlerweile von Gerichten der 2018 über ihn verhängten Haftstrafen entledigt, sein jüngerer Bruder Shehbaz sowie Tochter Maryam als nächste Generation drängen besonders vehement zurück an die Macht. Doch die PPP, fest in der Hand des Bhutto-Clans, ist nicht unbedingt viel besser. Ihr Spitzenkandidat ist der noch junge Bilawal Bhutto Zardari. Dessen Vater Asif Ali Zardari, später Präsident, hatte sich einst zu Regierungszeiten seiner Frau Benazir Bhutto einen unrühmlichen Spitznamen als »Mr. Zehn Prozent« erworben. Wenn der Junior sich heute mit der PPP als »einzige ernsthafte Alternative zu Nawaz« inszeniert, wirkt das unglaubwürdig. Zumal Bilawal nach dem Sturz Khans 2022 immerhin 16 Monate recht harmonisch als Juniorpartner mit Nawaz’ Bruder Shehbaz regierte. Jetzt hat er die Muslimliga wieder zum Hauptgegner erklärt. Eine neue Koalition schließt das trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht aus.

Hintergrund: Eskalierende Gewalt

Die Gegenwart in Pakistan bleibt von Gewalt geprägt. Leidtragende sind besonders Frauen: Mehr als 10.000 Gewaltakte allein in den ersten vier Monaten des Jahres hat eine lokale Nichtregierungsorganisation nur für die Provinz Punjab ermittelt, wie aus dem Pakistan-Länderbericht von Human Rights Watch hervorgeht. Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe werden oftmals eher als Kavaliersdelikt behandelt, ähnlich sieht es mit Fällen häuslicher Gewalt aus. Jedes Jahr verlieren landesweit zudem über 1.000 Frauen bei sogenannten Ehrenmorden ihr Leben. In der traditionellen, streng patriarchalen Gesellschaft, die mehrheitlich von einer sehr konservativen Auslegung des Islam geprägt ist, müssen sich Frauen vieler Einschränkungen ihrer Rechte erwehren.

Darüber hinaus gibt es latente Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen, die sich immer wieder in Gewaltausbrüchen entladen. Erst am Mittwoch töteten zwei Explosionen in Belutschistan mindestens 26 Menschen in der Nähe von Parteibüros. Die innerislamischen Auseinandersetzungen zwischen den dominanten Sunniten und der schiitischen Minderheit sind zwar etwas abgeflaut, dafür waren 2023 gerade wieder Christen besonders im Visier. Oft genügen schon kleine Vorwürfe, nicht selten Fake News oder völlig aufgebauschte Vorfälle, um eine Welle von Ausschreitungen in Gang zu setzen. So wurden im August in einem mehrheitlich von Christen bewohnten Viertel der ostpakistanischen Stadt Jaranwala mehrere Kirchen niedergebrannt, nachdem sich in sozialen Netzwerken das Gerücht verbreitet hatte, zwei Brüder, die dieser religiösen Minderheit angehören, hätten Seiten aus einem Koran gerissen. Dass solche mitunter haltlosen Unterstellungen tödlich enden können, hatte sich vor zwei Jahren gezeigt, als ein christlicher Geschäftsmann aus Sri Lanka von einem Mob gelyncht wurde.

Zudem haben sich die Hoffnungen in Islamabad nicht erfüllt, die Rückkehr der Taliban an die Macht im benachbarten Afghanistan könnte sich mäßigend auf die einheimischen Taliban (Tehrik-i-Taliban Pakistan, TTP) auswirken. Im Gegenteil, zuletzt mehrten sich wieder Anschläge der TTP an verschiedenen Orten, ebenso ist ein regionaler Ableger des »Islamischen Staats« in mehreren Landesteilen aktiv. Auch im laufenden Wahlkampf gab es schon jede Menge Attentate auf Politiker oder Bombenanschläge bei Veranstaltungen, die Zahl der Toten und Verletzten stieg vor allem in den vergangenen zwei Wochen nochmals erheblich. Ziel der Angriffe sind aber auch Polizeistationen und die Büros anderer staatlicher Behörden. Die Urheber sind nicht immer schnell zu ermitteln, nicht immer bekennt sich eine Gruppe offiziell zu einem Anschlag. Auch wenn ein Statement vorliegt, ist Vorsicht geboten. (tb)

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