Stricken an der Opfermär
Von Bernhard Krebs, KölnEine Handvoll Prozessbeobachter ließen im Gerichtsaal keinen Zweifel aufkommen, was sie vom Angeklagten Felix Alexander Cassel und seiner Partei halten: Auf einem Thermobecher, der gut sichtbar hinter der Trennscheibe zwischen Zuschauer- und Sitzungsbereich im Saal 112 des Kölner Justizzentrums stand, war in fetten Lettern: »FCK AFD« zu lesen. Die beiden im Saal befindlichen Justizwachtmeister schienen sich nicht dran zu stören. Sie schauten über die politische Meinungsäußerung in einem Gerichtssaal hinweg.
Seit Freitag steht Cassel, mittlerweile Vorsitzender der AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative« in Nordrhein-Westfalen, vor dem Kölner Landgericht. Der Vorwurf bleibt: Der 27jährige soll im April 2019 im Kölner Stadtteil Kalk am Rande einer Veranstaltung der AfD einen antifaschistischen Gegendemonstranten angefahren und dabei auf die Motorhaube gehoben haben. Anschließend soll er sich mit aufheulendem Motor vom Tatort entfernt haben.
Die Stimmung an jenem 7. April im migrantisch geprägten Kalk muss aufgeheizt gewesen sein. Der sogenannte Bürgerdialog der AfD wurde in der Domstadt als Provokation empfunden. Mehr als 4.000 Menschen waren einem Aufruf des antifaschistischen Bündnisses »Köln gegen rechts« gefolgt, darunter auch der Nebenkläger, der damals Opfer von Cassels Autoattacke wurde. Als es zu dem Vorfall gekommen war, habe er sich gemeinsam mit Freunden, darunter ein Rollstuhlfahrer, auf dem Heimweg befunden.
An einer Kreuzung habe die Gruppe beim Überqueren der Straße Cassel und sein Begleiter als Teilnehmer der AfD-Veranstaltung erkannt, die im Auto bei Rot warten mussten. »Wir sind dann extra ein bisschen langsamer gegangen und wollten ihn foppen«, so der 35jährige. Dabei habe man auch Parolen gerufen, wie: »Ganz Köln hasst die AfD!« Das Opfer der Attacke verwahrte sich aber gegen die Darstellung Cassels, dieser sei aus der Gruppe heraus bedroht oder gar angegriffen worden.
Cassel strickte, wie schon in den Verhandlungen zuvor, an der eigenen Opfermär. Er dramatisierte im Bürgercamouflage mit blauem Jackett und weißem Einstecktuch: »Man wollte mir an den Kragen.« Schon auf dem Weg zu der Veranstaltung sei er Ziel von Angriffen geworden. Man habe versucht, ihm den Hut vom Kopf zu schlagen. Dabei verschwieg er, wie Nebenklageanwalt Eberhard Reinecke bereits in vorangegangenen Verhandlungen anhand von Videoaufnahmen nachweisen konnte, dass Cassel zuvor Demonstranten provoziert hatte. Cassel behauptete hingegen, er habe mit den Gegendemonstranten über »Meinungsfreiheit diskutieren« wollen. Später an der Kreuzung, so Cassel, habe er, als ihm der Fahrweg blockiert worden sei, zurückgesetzt und sei in einem Bogen über die Gegenspur um die Gruppe mit dem Nebenkläger herumgefahren. Dabei sei dieser ihm in den Weg getreten und freiwillig auf die Motorhaube gesprungen.
Den Sprung räumte der Nebenkläger ein, die behauptete Freiwilligkeit verwies er ins Reich der Legenden. Er habe keine andere Wahl gehabt, als Cassel »mit Vollgas« auf ihn zugefahren sei. Zur Seite habe er nicht mehr gekonnt, also habe er sich bäuchlings auf die Motorhaube fallen lassen: »Sonst wäre ich überfahren worden.« Auf der Motorhaube habe er Cassel im Auto deutlich gesehen: »Da hat der Angeklagte mich angegrinst. Das ist ein Bild, das sich richtig in meinen Kopf eingerannt hat.« Der 35jährige Skateboardfahrer – »Ich bin geübt im Hinfallen« – war mit einem Ausfallschritt von der Motorhaube wieder abgestiegen und auf dem Hosenboden gelandet: »Da saß ich dann auf der Straße und war fassungslos.«
Der Fall war in den zurückliegenden Jahren schon durch mehrere Instanzen gegangen. Zunächst wurde Cassel im Juni 2021 vom Kölner Amtsgericht zu sieben Monate Haft auf Bewährung wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Unfallflucht verurteilt. In der Berufung war die Entscheidung vom Landgericht kassiert worden. In einer von Prozessbeobachtern als »Skandalurteil« gewerteten Entscheidung wurde Cassel freigesprochen, die Autoattacke als Notwehr eingeordnet. Im Januar 2023 korrigierte das Oberlandesgerichts (OLG) Köln die Entscheidung und verwies den Fall zurück ans Landgericht. Ein neues Urteil soll Ende Februar gesprochen werden.
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