4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 06.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Privatisierung im ÖPNV

S-Bahn-Krise 2.0

Berlin: Ausschreibung zweier Teilnetze wird zu Kostenfalle und Hängepartie. Zwölf Milliarden Euro Mehrkosten, Wagenmangel programmiert
Von Ralf Wurzbacher
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Auf dem Weg ins Milliardengrab: ÖPP-Projekt Berliner S-Bahn

Ein schlechtes Beispiel dafür, wie man nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr umgehen sollte, lieferte London vor über 20 Jahren. 2003 wurde die U-Bahn der britischen Metro­pole zerschlagen und teilprivatisiert. Kaum hatten zwei Firmenverbünde die Zuständigkeit für Unterhalt, Ersatz und Sanierung der technischen Infrastruktur inne, ging es mit der altehrwürdigen »Tube« bergab. Züge fuhren unpünktlich, Signale fielen aus, Weichen klemmten, Unfälle häuften sich, und die Preise schossen in die Höhe. 2007 rauschte das größere Konsortium – Metronet – in den Konkurs und das kleinere – Tube Lines – stand kaum besser da. Die Politik zog die Notbremse, wickelte das Projekt ab und schritt zur Rückverstaatlichung. Noch jahrelang musste das niedergewirtschaftete System auf Kosten der Steuerzahler teuer in Schuss gebracht werden.

Berlin ist drauf und dran, denselben Irrweg zu gehen. Auf Betreiben der früheren Verkehrssenatorin Regine Günther (Bündnis 90/Die Grünen) hatte das Land 2020 zwei Teilnetze der Berliner S-Bahn ausgeschrieben. Unter dem Eindruck der großen »S-Bahn-Krise« von 2009 wollte sie unbedingt andere Anbieter als die Deutsche Bahn (DB) auf die Schiene lotsen, mit der Ansage: »effektiver Wettbewerb« bei »vernünftigen Preisen« und »dauerhaft guter Qualität«. Heute spricht vieles dafür, dass ihre Pläne nicht aufgehen werden. Die Modalitäten des Verfahrens wurden auf Druck von SPD und Linkspartei so geändert, dass neben der Möglichkeit eines Zuschlags für mehrere Unternehmen auch die eines einzigen »Gesamtsiegers« besteht. Und weil die inzwischen federführend regierende CDU einen »Betrieb aus einer Hand« präferiert, erscheint ein Erfolg der DB ziemlich wahrscheinlich. Der Staatskonzern agiert seit 1995 als Alleinbetreiber der S-Bahn in Gestalt seiner Tochter S-Bahn-Berlin GmbH.

Aber ist deshalb die Gefahr einer Pleite wie der von London gebannt? Eben nicht! Die DB tritt in einer Bietergemeinschaft mit den Fahrzeugbauern Stadler und Siemens an. Diese sollen bis zu 2.160 neue Waggons fertigen, auf Grundlage einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP), was schon im Falle der »Tube« ins Verderben führte. Offiziell soll der neue Fuhrpark dem Land gehören, um sich von Bahnbetreibern »unabhängig« zu machen, wie es heißt. Das ist Augenwischerei: Eigentümer der Wagen wäre Berlin nur auf dem Papier, während die Besitzrechte bei den privaten »Partnern« lägen. Zuerst bauen sie die Waggons, um sie dann vertragsgemäß für mindestens 30 Jahre »instand zu halten«. Ganz materiell gehören sie Berlin erst danach – in vielleicht schrottreifem Zustand.

Zum Desaster geriete die Unternehmung aber schon viel früher, und zwar finanziell. Wie Ende Januar bekannt wurde, kalkuliert der Senat nicht mehr mit Gesamtausgaben von acht Milliarden Euro, sondern 20 Milliarden Euro. Die Berliner Zeitung verwies auf Bieterkreise, wonach für den Fahrzeugpool und dessen Pflege bis zu acht Milliarden Euro anfielen, für den auf 15 Jahre ausgeschriebenen Fahrbetrieb bis zu fünf Milliarden Euro. Dazu kämen noch milliardenschwere Kredite, die im Fall eines rein staatlichen Engagements viel geringer ausfielen (siehe Interview unten). Dabei wollte das Land über den ÖPP-Kniff eigentlich 800 Millionen Euro einsparen. Man hätte es besser wissen müssen: ÖPP-Geschäfte erweisen sich fast ausnahmslos als Rezept zum Ausplündern öffentlicher Kassen, getarnt durch Schattenhaushalte, die sich erst langfristig als Milliardengrab entpuppen. Der Bundesrechnungshof hat schon wiederholt die Tücken dieser Finanzierungsmodelle angeprangert.

Eine weitere, gängige Nebenwirkung von Privatisierungen: Die Dinge ziehen sich in die Länge, denn mehr Zeit verspricht immer auch mehr Profit. Bei der S-Bahn Berlin verzögert sich der Prozess zusätzlich und auf unabsehbare Zeit, weil der zum Bewerberfeld gehörende französische Alstom-Konzern juristisch gegen das Ausschreibungsdesign zu Felde zieht, was bis hoch zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) führen kann. Das Verfahren, so die Klage, begünstige große Konsortien, die Zugbau und -betrieb im Paket anbieten, während Alstom keinen Betreiber für die Bahnstrecken im Gepäck hat. Beim Berliner Fahrgastverband IGEB sieht man ob der Hängepartie schwarz: »Wir haben absehbar Ende des Jahrzehnts einen Wagenmangel.« London is calling.

Kommunalisierung? Am Sankt-Nimmerleins-Tag

Was wäre die Alternative zur S-Bahn-Ausschreibung? Für ­U-Bahnen, Busse, Straßenbahnen und Fähren sind in der Hauptstadt die landeseigenen Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zuständig – im Rahmen einer Direktvergabe, über die alle 15 Jahre neu entschieden wird. Um Berlin im Falle der S-Bahn eine Direktvergabe zu ermöglichen, müsste die S-Bahn oder wenigstens eine Anteilsmehrheit in Landeseigentum überführt werden. Tatsächlich gab es dazu Ende 2021 einen Vorstoß des Senats aus SPD, Linkspartei und Grünen. Man wolle den Bund vom Verkauf der S-Bahn Berlin GmbH »überzeugen« in der Absicht, so auf Ausschreibungsprozesse zu verzichten, die »viel Stress und Ärger« machten, äußerte sich damals Vizeregierungschef Klaus Lederer (Die Linke).

Der Vorstoß lief freilich unter der Rubrik Augenwischerei. Die Koalition hatte die Ausschreibung zweier Teilnetze 2020 ja selbst eingeleitet und war mitnichten bereit, das Verfahren abzubrechen. Wegen der aufgekommenen Kritik, die S-Bahn werde zerstückelt und teilprivatisiert, galt es ein Zeichen guten Willens zu setzen. Man werde, so die Ansage, ein landeseigenes Eisenbahnunternehmen gründen, das sich an künftigen Vergaben beteiligen könne, und im Bund dafür werben, die ­S-Bahn herauszurücken. Der große Haken: All das sollte nicht bis zur nächsten Vergaberunde 2027 passieren, sondern mit Blick auf die folgenden, sprich 2035 für die Ringbahn und irgendwann in den 2040er Jahren für Nord-Süd- und Stadtbahn. Die Koalition ist inzwischen abgewählt und der schöne Plan abgeräumt. (rwu)

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