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Wundertüte darf Wundertüte bleiben

Von Pierre Deason-Tomory
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Trauerspiel in fünf Akten: »Die Jüdin von Toledo« (Szenenfoto, Dresdner Semperoper)

Anfang der achtziger Jahre, ich war noch ein Kind, hörte ich beim Hausaufgabenmachen Radio, meistens Ö 1, ein Sammelsurium unterschiedlichster Sendungen, präsentiert von schönen Stimmen in einschmeichelnder Sprache. Ich saß am Schreibtisch, zwei Hunde und drei Katzen lagen um mich herum und atmeten leise, und aus dem Radiorekorder las mir jemand Literatur vor von Autoren, die ich nicht kannte. Es machte gar nichts, dass mein ADHS-Hirn beim Mathematikaufgabenlösen in den Äther abschweifte, ich hätte es auch bei voller Konzentration nicht hingekriegt. Aber mein Kopf war mit Hilfe des Empfängers in der unendlichen Welt und ihrer Geschichte unterwegs. Nachdem wir 1984 nach Nürnberg gezogen waren, habe ich Ö 1 arg vermisst.

Heute hören 700.000 Österreicher täglich den Sender. Sie hatten Anlass zur Sorge, war doch für den 5. Februar eine Programmreform angekündigt. Aber ein Durchhörbarkeitsmassaker – wie bei Bayern 2 geplant – blieb aus, es ist ein sachter Umbau geworden: Tagsüber sagen jetzt Moderatoren die Einzelsendungen an- und ab, okay, einige Sendereihen wurden aussortiert, neue eingeführt und andere verlegt, das war es im wesentlichen. Furchtbar schade ist allerdings, dass die »Kinderuni« geschlossen wurde. Das Format hatte das Potential, den Nachwuchs mit elterlicher Hilfe zum Radiogerät zu locken, wo er vielleicht hängen bleibt und Gefallen findet an einer Wundertüte mit Information, Kultur und Bildung. Immerhin darf Ö 1 genau das bleiben, als Nachweis seien drei Programmvorschläge weiter unten beispielhaft angeführt.

Erster Vorschlag aber ist das Por­trät eines Pianopointenattentäters, der Entspannung sucht »in der Vertonung der Gedichte von Peter Hacks und in der Nichtvertonung der Gedichte von Günter Grass«; die »Querköpfe« präsentieren »Die Lapsuslieder und Gedichte des Marco Tschirpke« (Mi., 21.05 Uhr, DLF). »Frieden ist die einzige Option« heißt eine jüngst erschienene Sammlung von Reden und Essays des israelischen Schriftstellers David Grossman; er kommt ausführlich zu Wort »Im Gespräch« (Do., 21 Uhr, Ö 1). Ein lange verschollenes Werk aus der Pionierzeit bringt der »Hörspielartmix«,  »Weekend« von Walter Ruttmann, die erste Originaltoncollage der deutschen Radiokunstgeschichte (Reichs-Rundfunk-Gesellschaft 1930, Fr., 21.05 Uhr, Bayern 2). Als »Mammutmonolog einer Monstermutter« wurde einst Thomas Bernhards Theaterstück »Am Ziel« besprochen, das gerade mit denselben Schauspielern für das Wiener Burgtheater und den Hörfunk inszeniert worden ist (ORF 2024, Sa., 14 Uhr, Ö 1). Direkt im Anschluss gibt es  »Die Stunksitzung 2024«, aufgenommen im Januar im Kölner ­E-Werk (Sa., 15.04 Uhr, WDR  5). Und am Abend die Uraufführung der Oper  »Die Jüdin von Toledo« nach Grillparzer, auftragsgemäß abgeliefert von Detlev Glanert und zeitversetzt gesendet aus der Dresdner Semperoper (Sa., 20 Uhr, DLF Kultur, MDR Kultur und So., 20.03 Uhr, SWR 2).  »Erich Frieds Gedanken zur Freiheit« liest Joseph Lorenz in der Ö 1-Reihe mit dem schönen Namen »Du holde Kunst« (So., 8.15 Uhr und Mo., 0.05 Uhr, Ö 1).

Für Liebhaber: Noch in Schwarzweiß aufgenommen wurde der Krimi »Zwanzig Paar Seidenstrümpfe« über Gewinner und Verlierer im westdeutschen Schiebermilieu der Nachkriegszeit (NWDR 1953, So., 19.04 Uhr, NDR Kultur). Schließlich sei noch das Konzert von »Billy Bragg und Band« erwähnt, das er im September auf dem Hamburger Reeperbahn Festival gegeben hat (Mo., 20.03 Uhr, DLF Kultur).

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