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Aus: Ausgabe vom 21.11.2023, Seite 12 / Thema
Chile '73

»Mit Blut beflecktes« Stadion

Im Estadio Nacional von Chile, gerade noch Internierungslager, sollte die UdSSR vor 50 Jahren zur WM-Qualifikation antreten. Über einen Boykott und mutige chilenische Fußballspieler
Von Glenn Jäger
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Die FIFA sah keinen Grund, das Spiel nicht auszutragen: »Der Rasen befand sich in einem herrlichen Zustand und alle Gefangenen befanden sich noch in den Umkleidekabinen.« Das Estadio Nacional in Santiago, das nach dem Putsch vom 11. September 1973 in ein Gefangenenlager umgewandelt worden war

Das »Leben im Stadion« sei »bei sonnigem Wetter recht angenehm«, sagte der einstige CDU-Generalsekretär Bruno Heck im Oktober 1973 über das Estadio Nacional de Chile. Über jenen Ort also, der kurz nach dem Militärputsch vom 11. September zum Internierungslager und Folterzentrum, ja zu einer Hinrichtungsstätte umfunktioniert worden war. Bald darauf sollte dort das entscheidende WM-Qualifikationsspiel zwischen Chile und der UdSSR stattfinden, nachdem sich beide Länder im Hinspiel 0:0 getrennt hatten. Die Sowjetunion weigerte sich, ausgerechnet in diesem Stadion anzutreten, während eine FIFA-Delegation keine Einwände hatte: »Der Rasen befand sich in einem herrlichen Zustand und alle Gefangenen befanden sich noch in den Umkleidekabinen.« Der sowjetische Antrag auf Verlegung der Partie blieb ergebnislos, und so kam es am 21. November 1973 zum wohl skurrilsten Spiel in der WM-Geschichte: Elf gegen null Mann erzielten schnell das 1:0 – das Ticket für die WM ‘74 in Westdeutschland war gelöst. Ereignisse und Biografien rund um jene Farce verweisen auf einen fußballpolitischen Lehrstoff und auf aufrechte chilenische Spieler, die auf seiten der Volksfrontregierung Allendes gestanden hatten und nun teilweise selbst mit Repression konfrontiert waren – so Hugo Lepe, Leonardo Véliz, Francisco Valdés, Carlos Caszely oder Raimundo Tupper.

»Partisanen der Unidad Popular«

»Allende verkörperte den Traum des Volkes, Pinochet und seine Soldaten haben ihn zerstört«, sagt Carlos Caszely in dem Film »Rebellen am Ball« unter der Regie von Éric Cantona (Arte, 2012), einstiger französischer Nationalspieler. »Es gab damals einen Fußballspieler, der Widerstand leistete und dafür bezahlen musste«, so Cantona über Caszely. Im Hintergrund ist der Refrain des Liedes vom »vereinten Volk« zu hören, das »niemals besiegt« würde, komponiert in der Ära Allende: »El pueblo unido, jamás será vencido«; zugleich sind wunderschöne Tore und Spielzüge Caszelys zu sehen: Sololauf übers halbe Feld, Heber in den Winkel. Mit dem CSD Colo-Colo mehrfach chilenischer Meister und Torschützenkönig und ab 1973 fünf Jahre lang in der spanischen Liga aktiv, war der Mittelstürmer für die Junta unantastbar – statt dessen wurde seine Mutter verhaftet.

Die Aufbruchsjahre der Volksfrontregierung seien, so Caszely, eine »wunderbare Zeit gewesen, vor allem für die Jugend.« Es habe eine »ausgezeichnete Atmosphäre geherrscht«, geprägt von »großer Gastlichkeit und starker Freundschaft«, bis »am 11. September 1973 die Nacht hereinbrach«. Direkt nach dem Putsch war die Repression am härtesten, rund 40.000 Gefangene allein im Nationalstadion zeugen davon.

»Wir schliefen direkt unter dieser Tribüne«, erinnert sich der Journalist Vladimiro Mimica in »Rebellen am Ball«. Sie hätten die Gefangenen mit einer »Decke über dem Kopf« mitgenommen, damit »du komplett die Orientierung verlorst«. Und: »Viele unserer Genossen, die zum Verhör abgeholt wurden, sind nie zurückgekommen.« Die meisten hätten sich »nie zuvor gesehen«, doch seien sie »alle aus dem gleichen Grund« im Stadion gewesen: »Weil wir Partisanen der Unidad Popular gewesen waren. Weil wir Salvador Allende unterstützt hatten.« Untermalt mit historischen Bildern von Gefangenen in den Katakomben, fährt Mimica fort: »Ich weiß nicht, ob es auch nur ein einziges Verhör ohne Folter gegeben hat. Die Repression war äußerst brutal.« Und Caszely, mit Ball am Fuß als Zeitzeuge in einer der Kabinen sitzend: »Nach allem, was ich gehört und gesehen habe, wurde hier in den Umkleiden gemordet und vergewaltigt.« Da vermische sich »so viel: die Trauer, der Schmerz, die Freude über ein Tor«. Man müsse »wachsam sein«, es sei »eine Geschichte, an die man sich erinnern muss, damit so etwas nie wieder passiert.«

Die Hand der CIA

Ein paar Hintergründe dieser Geschichte bleiben auch mit Blick auf die USA, den Kogastgeber der WM 2026 zu ergänzen. »Mit Rückendeckung des CIA«, hält etwa Christoph Biermann in einem 11-Freunde-Beitrag fest, »putschte das chilenische Militär gegen die sozialistische Regierung«. Zwei große Chroniken zur Geschichte der Weltmeisterschaften halten in Länderporträts zu Chile fest: Die »Rechte, die sich wegen des Endes der Monopole, der Agrarreform, der Verstaatlichung der grundlegenden Reichtümer des Landes und seiner strategischen Unternehmen in ihrer Macht verletzt sah«, konnte sich, so der chilenische Schriftsteller Antonio Skármeta in der WM-Bibliothek der Süddeutschen Zeitung, der »Hilfe der nordamerikanischen Regierung von Richard Nixon« sicher sein. Und Matthias Voigt schreibt in den WM-Annalen des Agon-Verlags: »Als von den nun durchgeführten Bodenrefomen und Enteignungen auch nordamerikanische Konzerne betroffen waren, fand am 11. September 1973 ein von der CIA vorbereiteter blutiger Militärputsch statt, der das mörderische Regime des von den USA unterstützten rechten Diktators Augusto Pinochet inthronisierte.« Jüngst hielten die Fußballchronisten Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp in »1974. Die WM der Genies« fest: »Den USA ist Allende ein Dorn im Auge, weshalb die CIA beim Putsch tatkräftig mithilft. Im Zentrum der Wirtschaftspolitik des Präsidenten standen die entschädigungslose Verstaatlichung der Bodenschätze – allen voran der Kupfervorkommen –, die Enteignung von ausländischen Großunternehmen, der Banken und eine Agrarreform, bei der eine Fläche von 20.000 Quadratkilometern von Großgrundbesitzern an Bauern und Kollektive überging. Des Weiteren wurden der Kohlebergbau und die Textilindustrie verstaatlicht und die in (vor allem US-amerikanischem) Privateigentum befindlichen Anteile am Kupferbergbau mit Zustimmung aller Parlamentsparteien enteignet. Die Preise für Miete und wichtige Grundbedarfsmittel wurden staatlich verordnet. Schulbildung und Gesundheitsversorgung waren kostenfrei.« Es folgt das kleine Einmaleins zur Rolle des Westens: Die »Chicago Boys« und Chile als Labor des Neoliberalismus; ein Franz Josef Strauß (CSU), demzufolge »das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang« erhielt; die »bundesdeutsche Wirtschaft«, die zu den »Profiteuren des Putsches« zählte. Als Beispiel ließe sich die aufatmende Nachricht der Hoechst AG aus Chile ergänzen: »Der so lange erwartete Eingriff des Militärs hat endlich stattgefunden.«

Wer die Fußballhistoriker nicht für sattelfest hält, möge etwa im Bericht des Church-Komi­tees nachschlagen, eines US-Untersuchungsberichts von 1975. »Es gibt keinen Zweifel, dass die US-Regierung einen Militärputsch anstrebte«, schloss das Kapitel »Covert Action in Chile 1963–1973«, in dem die CIA-Aktivitäten im Andenstaat überprüft wurden. Und das National Security Archive dokumentierte eine Unterredung, wonach US-Präsident Richard Nixon seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger bedeutete: »Unsere Hand ist nicht zu sehen.« Mit der Zeit war aber mehr und mehr zu sehen: US-Hilfen für eine rechte Opposition; Operationen zur Förderung einer Strategie der Spannung wie die Entführung und Ermordung von General Schneider 1970; gezielte Sabotageakte auch gegen die chilenische Wirtschaft.

Doch mag es genügen, Rudolf »Rudi« Gutendorf anzuführen. 1972/73 Nationaltrainer Chiles, wurde ihm noch vor dem Putsch geraten, wegen seiner politischen Sympathien »das Land so schnell wie möglich zu verlassen«, so Gutendorf selbst. Er habe »getrauert«, als er vom Tod des Präsidenten las: »Er hatte das nicht verdient. Allende war ein sauberer Kämpfer und konsequenter Arbeiter für eine Sache, an die er glaubte.« Er »sei nicht verschlagen und abgefeimt genug« gewesen, »um sich gegen seine vielen Feinde von innen und vor allem von außen durchzusetzen. Die Amerikaner mag ich nicht mehr – sie sprechen von Menschenrechten, gehen in Wirklichkeit aber über Leichen. Das weiß ich seit Chile. Beim ›Abservieren‹ Allendes waren sie mit von der Partie.«

Die FIFA lässt spielen

Nicht mit von der Partie war die sowjetische Auswahl, als am 21. November im Estadio Nacional das »Rückspiel« der Qualifikation für die WM 1974 stattfand. Vorausgegangen war am 26. September ein 0:0 vor 60.000 Zuschauern im »W.- I.- Lenin-Zentralstadion«. Die UdSSR hatte den Putsch verurteilt, die diplomatischen Beziehungen zu Chile abgebrochen und auf die Verlegung des Spiels gedrängt. Daraufhin begutachtete die FIFA mit einer Delegation unter Leitung ihres Schweizer Generalsekretärs Helmut Käser und des brasilianischen FIFA-Vizepräsidenten Abilio d’Almeida das Stadion, empfangen von Oberst Espinoza, der dem chilenischen Geheimdienst angehörte. Zu den rund 7.000 Gefangenen, die sich noch im Stadion befanden und größtenteils im Innern versteckt wurden, gehörte Gregorio Mena Barrales. Laut dem sozialistischen Politiker betrachtete die Delegation die Inhaftierten »mit distanziertem Blick« und kam schließlich zu dem Schluss: »Im Stadion kann gespielt werden.« Der Befreiungstheologe Enrique Moreno Laval sagt in dem Dokumentarfilm »Estadio Nacional«: »Durch ein paar Ritzen in den Kellerluken konnten wir diese dicken Funktionäre sehen, wie sie über den Rasen liefen und anscheinend alles ganz korrekt fanden.«

Vor der angesetzten Partie wurden die Gefangenen in die Atacama-Wüste verbracht. Nachdem die sowjetische Seite der FIFA erklärt hatte, sie werde in dem Stadion nicht spielen, da es »mit dem Blut chilenischer Patrioten befleckt« sei, traten elf Chilenen ohne Gegner an. Nach rund 30 Sekunden erzielte Kapitän Valdés das 1:0. Mangels Möglichkeit zum Wiederanstoß brach der österreichische Schiedsrichter Erich Linemayr die Partie ab, sie wurde mit 2:0 für Chile gewertet.

Einige Details gehen gemäß mündlicher Überlieferungen auseinander. Manche erinnern sich an 10.000 Zuschauer, andere an 30.000, offiziell waren es 17.418, angesichts historischer Aufnahmen eine realistische Zahl. Bemerkenswert einmal mehr die Worte Caszelys: In einer der Fankurven habe niemand gesessen, und »als das Tor fiel«, seien sie »vor diese Kurve getreten. Alle haben sich gefragt, was sie da tun«. Sie hätten dieses Tor denjenigen gewidmet, die »hätten da sein sollen«.

Die FIFA ließ sich auch nicht von der bereits qualifizierten DDR beirren, die öffentlich erwog, die WM zu boykottieren, würde die Begegnung nicht verlegt. Die sowjetische Auswahl befand sich, noch auf ein Einlenken der FIFA hoffend, in Lateinamerika. Als »Ersatz« für das Spiel gegen Chile maß man sich statt dessen mit dem brasilianischen Verein Santos, der auch ohne Pelé mit 5:0 gewann. Gegen den mexikanischen Verein FC Irapuato folgte eine weitere Partie, zu der das Neue Deutschland (23. November 1973) ein 0:3 für die »UdSSR-Klubauswahl« notierte.

Rache am verweigerten Handschlag

Nach der erfolgreichen Qualifikation – zuvor hatte man Peru nach 0:2 und 2:0 in einem Entscheidungsspiel in Uruguay mit 2:1 geschlagen – empfing Pinochet die Mannschaft, es kam zu einem verweigerten Handschlag. »Plötzlich öffneten sich die Türen und dieser Typ erschien«, so Caszely. Mit Sonnenbrille und Schirmmütze habe der Junta­chef, das Gesicht streng, begonnen, die Spieler zu begrüßen. »Als er bei mir ankommt und ganz dicht vor mir steht, lege ich meine Hände auf den Rücken. Und als er die Hand hinstreckt, gebe ich sie ihm nicht.« Er habe »diese Pflicht als Mensch« gehabt. »Denn da war ein ganzes Volk hinter mir, das litt«, sagt Carlos Caszely. »Carlito«, habe er Leute aus dem Volk leise rufen gehört, »sie haben mich festgenommen. Carlito, ich habe ein Pro­blem. Carlito, sie suchen mich.« Irgendwann habe er »Stopp sagen« müssen, »Nein zur Diktatur«. Und »als ich vor ihm stand, sagte ich: ›Sie wissen doch von den Problemen mit den Bergleuten, den Gewerkschaften, den Gefangenen«. Doch Pinochet habe sich »einfach die Ohren zugehalten«. Sich »auf das Niveau von Mördern herablassen«, schließt Caszely, das könne er nicht.

Die Quittung folgte noch 1974. Als Caszely aus Spanien zur WM-Vorbereitung zurückkehrte, habe eine »traurige« und »in sich gekehrte« Mutter auf ihn gewartet. Der Vater ähnlich, seine Schwester habe geweint. Fast 40 Jahre danach stockt Caszely die Stimme, es falle ihm »schwer, darüber zu sprechen, noch immer«. Zu Hause angekommen, habe ihn seine Mutter in ihr Zimmer gebeten. »Sie haben mich festgenommen. Und gefoltert.« – »Mama, hör auf, mit so etwas spaßt man nicht.« Da habe sie sich zum Licht gedreht und ihre Brust mit den Verbrennungen gezeigt. Sie habe ihn in ihre Arme genommen und geweint. »Und ich«, ringt Caszely um Fassung, »habe geweint wie ein Kind«. Noch immer könne er »nicht verstehen, warum«. Um dann doch zu erklären: »Sie wollten mich treffen. Und dafür haben sie sich an der vergangen, die mir am teuersten war, an meiner Mutter.« Wer den Cantona-Film sieht, weiß: Dies ist eine von xtausend Geschichten, die Chile prägten.

Víctor Jara im Gepäck

Aus den Reihen des chilenischen Fußballs waren einige Akteure selbst von politischer Verfolgung betroffen, so Alfonso Reyes, der Arzt der Nationalmannschaft. Er galt als kommunistischer Aktivist, der Mittellosen aus dem Volk kostenlose medizinische Versorgung bot. Reyes wurde im Dezember 1973 verhaftet, elf Monate lang interniert und nach Angaben des Nationalspielers Leonardo Véliz mehrfach gefoltert. Reyes konnte sich in der Ära Allende in einem Klima bewegen, in dem »der Fußball in Chile sehr stark mit der Linken verbunden« war, führen Schulze-Marmeling/Dahlkamp die Historikerin Brenda Elsey an: »Fast alle Fußballvereine hatten viele der konservativen Personen, die in den Führungsgremien des chilenischen Fußballs tätig waren, abgewählt.« Nach dem Putsch seien »alle Führungspersönlichkeiten des Fußballs durch Militärs ersetzt« worden, und »Wahlen für alle Spitzenpositionen wurden untersagt«.

Die Junta machte auch vor der Verfolgung bekannterer Spieler nicht Halt. Dazu gehört Hugo Lepe, der bei der Heim-WM 1962 im Kader stand – wenn auch ohne Einsatz. Mit einigen anderen gründete der zweifache chilenische Meister die Spielergewerkschaft Sindicato de Futbolistas Profesionales de Chile (Sifup). Ende der 1960er Jahre bekam er als Architekt eine Stelle im Bau­ministerium, wo der bekennende Sozialist in der Ära Allende befördert wurde. Kurz nach dem Putsch wurde er festgenommen und ins Stadion verfrachtet. »Lepe sitzt dort nicht nur ein, sondern wird auch zusammengeschlagen und malträtiert«, so Christoph Biermann in der Zeitschrift 11 Freunde, gestützt auf Recherchen von Javier Cáceres, Sportjournalist der Süddeutschen Zeitung. Biermann weiter: »Derweil suchen ehemalige Mannschaftskameraden nach ihm. Sergio Navarro, Kapitän der WM-Mannschaft, versucht erfolglos bei befreundeten Militärs zu intervenieren. Francisco Valdés, Kapitän des damals aktuellen Nationalteams, macht sich ebenfalls auf die Suche. Er geht ins Nationalstadion, nachdem Lepes Frau einen anonymen Anruf bekommen hat: ›Hugo ist im Stadion.‹ Beim ersten Mal findet er ihn nicht, auch der zweite Besuch ist erfolglos. Valdés macht Druck bei einem Militär, den er von seinem Klub Colo-Colo kennt: ›Wenn Lepe etwas passiert, werdet ihr in mir euren ärgsten Gegner haben.‹ Und wirklich wird Lepes Name kurz darauf über den Stadionlautsprecher ausgerufen. Er wird entlassen.«

Laut einer leicht abweichenden Version der Onlinezeitung Revista obdulio. Deporte en rebeldía nutzte Valdés seine Bekanntheit, um sich »einen Ausweis zu besorgen«, mit dem er an verschiedenen Orten politische Gefangene besuchen konnte. Er habe Lepe »nach anderthalb Monaten« gefunden. Zudem habe Valdés in der Angelegenheit um eine Audienz bei Pinochet gebeten, die ihm auch gewährt worden sei: »Denn ich war der Kapitän der chilenischen Nationalmannschaft, puh, ich musste es tun«, heißt es in der Revista obdulio unter Berufung auf den Sportjournalisten Axel Pickett. Wenig später wird Lepe bei dem »Spiel« Chile–UdSSR auf der Tribüne sitzen. »Ich habe ihn gefragt: ›Was machst du hier, verflucht?‹ Offen gesagt, ich habe ihn nicht verstanden«, erinnert sich Valdés. Lepe wird Gründe gehabt haben – in einer Zeit großer Widersprüche.

Auch Nationalspieler Leonardo Véliz nutzte seinen Ruf, um die Freilassung eines Gefangenen zu erreichen. Zurück vom Spiel in Moskau, hatte der Linksaußen erfahren, dass ein Onkel von ihm im Stadion einsaß. Er streifte sich sein Colo-Colo-Trikot über und ging zum Estadio Nacional. Die Militärs erkannten ihn, teilten ihm mit, dass sein Onkel lebe, und ließen diesen schließlich frei. Jahre später wird Véliz, bei Sporting Lissabon Jugendtrainer von Cristiano Ronaldo, die Anekdote von der Reise nach Moskau erzählen: Auf dem Weg zum Qualifikationsmatch versteckte er Schallplatten mit der widerständigen Musik von Víctor Jara und Quilapayún im Gepäck.

Die aufrechte Haltung einiger prominenterer Spieler verlangte anderen Respekt ab, die in Deckung gingen. Exemplarisch erscheint der Fall von Raimundo Tupper, 1993/94 chilenischer Nationalspieler, bevor er, gerade 26jährig, infolge einer klinischen Depression den Freitod wählte. Der Linksverteidiger spielte für den Hauptstadtclub Universidad Católica, der der »Päpstlichen Katholischen Universität von Chile« entstammt. Laut Revista obdulio forderte der Vorstand die Spieler 1988 bei der Volksabstimmung über eine weitere Amtszeit Pinochets dazu auf, mit Ja zu stimmen, also für die Junta. Später sollte sich der Torwart Marco Cornez daran erinnern, dass »Raimundo aufstand« und erklärte, er werde mit Nein stimmen, weil er »auf der anderen Seite« stünde. Der ganzen Mannschaft habe ins Gesicht gestanden: »Wow, wie mutig, das zu sagen«, das hätte sich sonst niemand getraut. Gut möglich, dass sich Raimundo Tupper in seiner couragierten Haltung durch einen Aufruf von Carlos Caszely bestärkt sah.

Der Volksentscheid von 1988

15 Jahre nach dem Putsch läutete das Referendum das Ende der Militärdiktatur ein: Das Nein zu einer weiteren achtjährigen Amtszeit Pinochets setzte sich mit rund 56 Prozent durch. Ein Baustein in der großen Kampagne für das »No« bildete ein ganz besonderer Wahlspot: »Als wir die Aufnahmen mit meiner Mutter machten, die heute nicht mehr unter uns ist, da hatten die meisten geweint«, erinnert sich Caszely. Darin ist eine stolze Frau zu sehen, die von einer »traurigen Angelegenheit« erzählt, »die nach dem Putsch geschah«. Sie sei »an einen unbekannten Ort verschleppt« worden, »mit verbundenen Augen«. Und mit ruhiger Stimme spricht sie weiter: »Ich wurde misshandelt. Auf so vielfältige Art, dass ich nicht alles wiedergeben kann: Aus Respekt vor meinen Kindern, meinem Mann und meiner Familie. Aus Respekt vor mir selbst.« Zwar könne sie »die körperliche Folter vergessen«, aber »die psychischen Wunden verheilen nicht so einfach«. Und noch einmal: Kein Vergessen, daher werde sie mit Nein stimmen, für ein Land »mit Freude«, so einer der wiederkehrenden Begriffe der Kampagne. Im Bild erscheint ein Mann, Ende dreißig. Auch er verkündet, Nein zu wählen: »Weil ihre Freude meine Freude ist. Ihre Gefühle meine Gefühle sind. Damit wir morgen in einer Demokratie leben können, frei, gesund, solidarisch, in der wir alle vereint sind. Denn diese wundervolle Frau ist meine Mutter.« Was sich leicht kitschig anhören mag, war vor dem realen Hintergrund im wahrsten Sinne bewegend. Der Spot wirkte mobilisierend, gerade bei Unentschlossenen. Dem Journalisten Mimica zufolge war er »eine der einschneidendsten Episoden in dieser Kampagne«.

»Nunca mas! Nie wieder«, hieß es am 12. März 1990 bei der großen Versöhnungsfeier im Estadio Nacional. Ein gefülltes Stadion, eine chilenische Fahne über das komplette Spielfeld, die Hymne. Auf den Rängen Fotos von Verschwundenen, Gefolterten, Ermordeten. Und über die Anzeigentafel liefen, schier endlos, Namen von Opfern.

Chile sí, junta no!

Zurück zum großen Turnier. Drei Partien bestritt Chile bei der WM ’74. Nach den Vorrundenspielen gegen die BRD (0:1), die DDR (1:1) und Australien (0:0) musste man die Koffer packen. Interessanter als die Ergebnisse aber war, dass die Spiele begleitet wurden von der Solidaritätskampagne »Chile sí, Junta no«, ein Slogan, der auch auf einem großen Banner auf den Rängen prangte. Als Chile am 14. Juni im Hamburger Volksparkstadion gegen die DFB-Auswahl antrat, schafften es drei »Flitzer« aufs Feld. Während die Spieler innehielten, schwenkten sie eine Fahne mit besagtem Motto, das auch aus der Fankurve skandiert wurde. »Wir wollten ein öffentliches Signal der Solidarität gegen die Diktatur setzen«, so ein Aktiver in den Lateinamerika-Nachrichten (April 2006). Hinterher hätten sie erfahren, dass das auch in Chile »genauso angekommen ist«.

Ach so, Cantona: Der hatte als Spieler den Ruf des Enfant terrible, am legendärsten sein Kung-Fu-Tritt im Trikot von Manchester United, als er einen Fan von Crystal Palace, der ihn rassistisch beleidigt hatte, kunstfertig über die Bande hinweg ansprang. In genanntem Film würdigt er nicht nur rebellische Fußballkollegen, sondern auch den antifaschistischen Widerstand gegen das Spanien Francos oder den Einsatz für antikoloniale Befreiung etwa Algeriens. In seiner Hommage an die Unidad Popular bringt er Auszüge aus jener Radioansprache, in der sich Allende letztmals an das chilenische Volk wandte: »Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.« Und »früher oder später«, versicherte Allende, würden sich »erneut die breiten Avenidas auftun«, auf denen »der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht«. Es mögen Straßen sein, auf denen auch der chilenische Fußball zu Hause ist.

Glenn Jäger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. Dezember 2022 zur Fußballweltmeisterschaft in Katar.

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  • Leserbrief von Andreas Dölle aus Tolstefanz (22. November 2023 um 14:12 Uhr)
    Danke für diesen Artikel!

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