Wem gehört die Welt? - Dein Abo zählt.
Gegründet 1947 Donnerstag, 7. Dezember 2023, Nr. 285
Die junge Welt wird von 2753 GenossInnen herausgegeben
Wem gehört die Welt? - Dein Abo zählt. Wem gehört die Welt? - Dein Abo zählt.
Wem gehört die Welt? - Dein Abo zählt.
Aus: Ausgabe vom 21.11.2023, Seite 10 / Feuilleton
Avantgarde-Elektronik

Die Poesie der Physik

Das reine Hören: Alva Notos pulsierendes Elektronikalbum »HYbr:ID II«
Von Alexander Kasbohm
imago0083873391h.jpg
Dunkle Räume, in denen es knistert und knarzt: Carsten Nicolai alias Alva Noto

»HYbr:ID II« ist der zweite Teil einer Reihe mit Kompositionen, die Carsten Nicolai alias Alva Noto für Tanzperformances geschrieben hat. Wie sein Vorgänger ist das Album Resultat einer Auftragsarbeit für den Tänzer und Choreopgraphen Richard Siegal. Und es ist auch musikalisch eine Erweiterung des ersten: Wie dieses bietet es – an der Oberfläche – Ruhe, viel Platz, eine dubbige Atmosphäre.

Die Musik ist eine Meditation über Raum und Zeit, über das Werden und Vergehen. Letztlich also über das Dasein und dessen Endlichkeit, für die Nicolai das vierdimensionale Raum-Zeit-Modell, mit Zeit als vierter Dimension, im Hinterkopf hatte. Es ist ein Versuch, ein physikalisches Modell, das unsere Vorstellungskraft sprengt, bestenfalls rational nachvollziehbar ist, in etwas Fühlbares umzusetzen.

An dieser Stelle kommt das Diktum in den Sinn, dass über Musik zu schreiben sei, wie über Architektur zu tanzen. Inzwischen wurde es wohl schon fast jedem und seinem Milchmann zugeschrieben, geht wohl aber auf den gar nicht mal unlustigen Musiker und Komödianten Martin Mull zurück. Oft wird es verwendet, um die Musikkritik im Ganzen zu diskreditieren. Aber das ist natürlich Unsinn. Denn es ist sehr wohl möglich, zu Architektur zu tanzen. So, wie es auch möglich ist, zu Physik zu tanzen und über Musik zu schreiben. In all diesen Fällen geht es um das Übertragen einer Erfahrung aus einem Medium in das andere. Und zwischen Architektur (oder Physik) und Tanz sind die Parallelen noch augenfälliger als zwischen Musik und Text. Bei Architektur/Physik und Tanz geht es um Positionierungen in Raum und Zeit.

Carsten Nicolai schafft dunkle Räume, in denen es knistert und knarzt. Mal klingt es wie Bläschen, die in einer lichtlosen Lagerhalle unregelmäßig in einem Flüssigkeitstank aufsteigen und zerplatzen – Schall von Beton und Stahl reflektiert. Mal klingt es, als hätte er sich Stefan Betkes (Pole) kaputten Waldorf-4-Pole-Filter ausgeliehen. Oder, und das charakterisiert das Konzept vermutlich am besten, es erinnert an den Zerfall von Nukliden in den eisigen Weiten des Alls. Das anscheinend Chaotische oder Zufällige der Radioaktivität trifft auf die geordnete Regelmäßigkeit von Wellen und Pulsen, die sich als Motiv durch alle Stücke zieht. In der Ferne ein fast uniformer Drone, gleich der kosmischen Hintergrundstrahlung.

Im Kontrast dazu, ganz nah am Hörenden, das Knistern der elektronenmikroskopischen Welt. Nicolai arbeitet hier mit ungeheurer Schärfentiefe, alle Elemente sind gleichermaßen im Fokus, wodurch ein gewaltiger Raum zwischen dem sehr Nahen und dem unfassbar Entfernten aufgemacht wird und eine Spannung zwischen beiden Elementen entsteht, die die Weite beinahe physisch fühlbar macht. Diese Gleichzeitigkeit von kühler Präzision und einer fast poetischen Tiefe kennt man im Werk Alva Notos vor allem – auf ganz andere Weise – aus der Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Komponisten Ryuichi Sakamoto, in der die Aufgaben klar verteilt waren: Von Sakamoto kam das poetische Element, das in Spannung zum vergleichsweise rational wirkenden Element Alva Notos stand. Hier auf »HYbr:ID II« ist die Poesie weniger romantisch, sie ist nüchterner, aber unausweichlich, wenn man sich mit dem Nichtbegreifbaren beschäftigt. Mit dem »Verstehen, ohne zu verstehen«, wie es einen manchmal beim Betrachten von Kunst oder eben der Natur überkommt.

Die entscheidende Frage bei Musik, die als Teil eines größeren Werkes – sei es Preformance oder Installation – konzipiert ist, ist natürlich immer, ob sie auch für sich alleine funktioniert. »HYbr:ID II« funktioniert nicht nur losgelöst von Siegals Performance, es ist – gerade als reines Hörerlebnis – ein beeindruckendes Album.

Alva Noto: »HYbr:ID II« (Noton)

Immer noch kein Abo?

Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.

Mehr aus: Feuilleton