Das unsterbliche Imperium
Von Jörg Tiedjen
Am 8. November wurde im französischen Parlament ein Bericht »Über die Beziehungen zwischen Frankreich und Afrika« vorgestellt. Das Ergebnis kann wenig überraschen. Die Abgeordneten Michèle Tabarot und Bruno Fuchs konstatieren darin einen »Verlust des Einflusses« und fordern »eine neue Strategie« gegenüber dem Kontinent. Nötig seien nicht allein mehr Mittel für Personal und Militär, vielmehr müssten auch die Möglichkeiten der Einflussnahme besser genutzt werden. Zudem solle das Verhältnis zwischen Frankreich und Afrika auf Basis der Gleichberechtigung neu überdacht werden. In der Diskussion vertiefte der kommunistische Abgeordnete Jean-Paul Lecoq diesen Punkt. Er mahnte, dass Interventionen und Stellungnahmen Frankreichs »Spuren hinterlassen« hätten. Er plädierte dafür, die Länder in eine »zweite Unabhängigkeit« zu »begleiten«.
Die »erste Unabhängigkeit« der französischen Kolonien war von Anfang an eine Täuschung, wie man in der voluminösen »Geschichte der Françafrique« nachlesen kann. Das von einem Autorenkollektiv geschriebene Standardwerk wurde im Sommer neu als Taschenbuch herausgegeben. Wer sich mit dem französischen Imperialismus beschäftigt, kommt um das Buch nicht herum. Es beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Frankreich nicht zuletzt wegen seiner Kolonien als Siegermacht dastand. Der Begriff der Françafrique war aus dieser Erfahrung hervorgegangen. Erstmals benutzt wurde er vom Herausgeber einer Zeitschrift der Résistance 1945. Die Wortschöpfung sollte an die Stärke Frankreichs erinnern, seine »enge Verbindung zu Afrika«. In diesem Sinne benutzte auch der Ivorer Félix Houphouët-Boigny, der als Kommunist begonnen hatte und später als Staatspräsident seines Landes eine der Säulen der Françafrique war, den Begriff. Heute allerdings steht das Wort auch für den »größten Skandal der Republik«. Das war Ende der 1990er Jahre der Untertitel einer Schrift von François-Xavier Verschave, Gründer der antikolonialen Gesellschaft Survie. Aus ihrem Umkreis stammen mehrere Autoren des Bandes.
Die Kolonien wurden nicht in die Freiheit entlassen, sondern in eine lange noch sehr direkte Herrschaft aus Geheimpolizei und Interventionsarmeen mit Folterkammern und Schafott. Die erste Unabhängigkeit, die Frankreich seinen Kolonien gewährte, ist die Zeit der von der Kolonialmacht eingesetzten und unterhaltenen Kompradorenregime, der niedergeschlagenen Freiheitsbewegungen, der politischen Morde, Interventionen und Massaker bis hin zum Völkermord in Ruanda als grausigem Höhepunkt. Mittels des Franc CFA beherrscht Paris bis heute die Ökonomien zahlreicher afrikanischer Länder. Französische Firmen genießen Vorzugsrechte, mit Frankophonie und Auslandsschulen wird die kulturelle Hegemonie sichergestellt.
Zahlreiche Aspekte werden in dem Buch ausführlich behandelt, darunter der weitgehend unbekannte Krieg in Kamerun oder »Monsieur Afrique« Jacques Foccart, der die »Afrikanische Zelle im Élysée« und den Geheimdienst unter den Präsidenten Charles de Gaulle und Georges Pompidou leitete und die Françafrique als gleichsam mafiöses Netzwerk ausbaute. Auch antikoloniale Projekte wie die Zeitschrift Présence Africaine erhalten Raum.
Das Ansehen nicht allein Frankreichs, sondern der ganzen westlichen Welt befindet sich auf einem Tiefstand. Ein wichtiger Grund sind die heuchlerischen doppelten Standards: Dass offensichtlich nicht für alle die gleichen Regeln gelten, wird gerade auch in Afrika klar gesehen und nicht mehr hingenommen. »Wir haben die Schlacht im globalen Süden definitiv verloren«, sagte ein »hochrangiger G7-Diplomat« Mitte Oktober der Financial Times. »Die Arbeit, die wir (wegen der Ukraine) geleistet haben, ist verloren. Vergessen Sie die ›Regeln‹, vergessen Sie die ›Weltordnung‹. Sie werden nie wieder auf uns hören.« Allerdings zeigt der Françafrique-Band auch: Der Neokolonialismus wurde immer wieder für tot erklärt und hat sich dennoch bis heute gehalten.
Thomas Borrel, Amzat Boukari-Yabara, Benoît Collombat, Thomas Deltombe (Hrsg.): Une Histoire de la Françafrique. L’Empire qui ne veut pas mourir. Éditions Points, Paris 2023,
1.308 Seiten, 15,90 Euro
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. November 2023 um 22:49 Uhr)Die Kolonialherrschaft Frankreichs in Afrika war von wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Dominanz und kultureller Beeinflussung geprägt! Frankreich profitierte von den reichen natürlichen Ressourcen, insbesondere in den Ländern Westafrikas wie Senegal, Elfenbeinküste und Guinea. Der französische Kolonialapparat kontrollierte Regierungsinstitutionen, und lokale Führungspersönlichkeiten wurden oft von Paris ernannt oder beeinflusst. Dies führte zu einer begrenzten politischen Autonomie der afrikanischen Kolonien. Die französische Kultur wurde in den Kolonien durch Bildungseinrichtungen, Medien und den generellen kulturellen Austausch gefördert. Dies führte zu einer oft komplexen Beziehung zwischen den lokalen Kulturen und der französischen Identität. Die intensive wirtschaftliche Ausbeutung, politische Dominanz und kulturelle Assimilation im Zuge der französischen Kolonialherrschaft in Afrika führten nicht nur zu einem Transfer von Reichtum nach Frankreich, sondern hinterließen auch tiefe Narben in Form von zerstörten lokalen Kulturen und Traditionen, deren Erholung bis heute eine ungelöste Herausforderung darstellt.
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