260 Millionen Dollar pro Tag
Von Knut Mellenthin
In Israel steigt in Kriegszeiten traditionell die Unterstützung der Bevölkerung für den Premierminister. Aber gegen diese Regel ist die Zustimmung für Benjamin Netanjahu seit Beginn des neuen Gazakriegs stark gesunken. Nach einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage würde die Koalition aus Netanjahus Likud und einer Allianz extrem rechter Parteien gegenwärtig nur noch 45 von 120 Abgeordnetensitzen in der Knesset erhalten. Gegenwärtig hat die Regierungskoalition dort mit 64 Sitzen die Mehrheit. Hauptverlierer wäre der Likud, der laut Umfrage statt 32 nur noch 17 Mandate bekäme.
Stärkste Partei würde die Nationalunion des früheren Verteidigungsministers Benjamin Gantz, die sich von derzeit zwölf auf 36 Sitze verbessern könnte. Jesch Atid, die liberale Partei des parlamentarischen Oppositionsführers Jair Lapid, hätte nur noch 15 statt 24 Sitze. Insgesamt ergäbe sich für die politischen Kräfte, die zwischen dem 13. Juni 2021 und dem 30. Juni 2022 die Regierung unter Premierminister Naftali Bennett stellten, eine Mehrheit von 70 Sitzen. Fünf Mandate würden dem arabischen Parteienbündnis Chadasch-Taal zufallen, das keinen der beiden großen Blöcke unterstützt. In einem direkten Vergleich der Hauptkandidaten für das Amt des Premierministers ergäbe sich der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage zufolge eine Mehrheit von 41 zu 25 Prozent für Gantz, der seit dem 12. Oktober als Minister ohne Geschäftsbereich einer breiten Notstandsregierung angehört.
Hauptsächlich gegen Netanjahu richten sich die Protestaktionen für die Befreiung der 240 Menschen, die am 7. Oktober von Mitgliedern palästinensischer Widerstandsorganisationen in den Gazastreifen verschleppt wurden und dort als Geiseln für einen Gefangenenaustausch festgehalten werden. Initiiert von Familienangehörigen der Verschleppten, fand in der vergangenen Woche ein fünftägiger Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem statt, der in der Umgebung von Netanjahus Residenz endete. Nach Schätzung israelischer Medien beteiligten sich rund 30.000 Menschen an der letzten Etappe des Marsches. Oppositionsführer Lapid war persönlich bei der Protestaktion zugegen, Gantz traf anschließend in Tel Aviv mit Angehörigen der Verschleppten zusammen. Viele von ihnen werfen Netanjahu vor, sie bei seinen militärischen Entscheidungen nicht einzubeziehen und keine Rücksicht auf die Geiseln zu nehmen.
Letztlich sind sich alle maßgeblichen israelischen Politiker einschließlich des parlamentarischen Oppositionsführers Lapid einig, dass der Krieg im Gazastreifen bis zur vollständigen »Vernichtung« der Hamas und anderer von dort aus aktiver Widerstandsorganisationen fortgeführt werden müsse. Bis dahin können allerdings nach übereinstimmenden Schätzungen der Militärführung noch mehrere Monate vergehen, vielleicht sogar ein ganzes Jahr.
Schon jetzt haben die israelischen Streitkräfte durch Luftangriffe und andere Kriegshandlungen bis zum Wochenende mehr als 12.000 Menschen getötet, darunter 5.000 Kinder und 3.300 Frauen. Während die Mehrheit der Staaten des »globalen Südens« von israelischen Kriegsverbrechen und viele von Völkermord sprechen, unterstützt die westliche Allianz fast ausnahmslos das »Selbstverteidigungsrecht« Israels.
Einwände gegen eine monatelange Fortsetzung des Gazafeldzugs kommen im Westen eher von der wirtschaftlichen als von der humanitären Seite: Jeder Kriegstag koste das Land nach Berechnung der Nachrichtenwebsite Bloomberg ungefähr 260 Millionen Dollar. Aufgrund der Einberufung von 300.000 Reservisten zum Kriegsdienst verzeichnen 70 Prozent der israelischen Technologiefirmen Störungen ihrer Arbeitsabläufe.
Fünf Staaten – Südafrika, Bangladesch, Bolivien, Dschibuti und die Komoren – haben am Freitag beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beantragt, die Lage in den von Israel besetzten Gebieten im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Gazakrieg zu untersuchen.
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