»Wir leben in einem Ausnahmezustand«
Interview: Dieter Reinisch
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Ukraine-Krieg eine lange Vorgeschichte hat und weder im Februar 2022 noch 2014 begonnen hat. Was ist die Vorgeschichte?
Die Ukraine war immer schon eine ungelöste Frage in Europa, das zieht sich seit Jahrhunderten, aber wurde besonders akut nach dem Ersten Weltkrieg. Schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es fünf Kriege in dem Land: Die Rumänen, Griechen, Deutschen, Bolschewiki und viele andere waren in Kämpfe involviert. Der Kampf für die Unabhängigkeit wurde von Beginn an von diesem Umfeld geprägt. Der Krieg gegen die Sowjetunion (der russische Bürgerkrieg, jW) war damals bereits im Entstehen, und ukrainische Nationalisten nahmen daran teil. Sie nahmen auch daran teil, nachdem die deutsche Wehrmacht einmarschiert war, und diese Episode macht die ganze Sache sehr problematisch und ist daher sehr wichtig für das Verständnis des ukrainischen Nationalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 und 1991.
Was meinen Sie damit?
Die Idee des ukrainischen Nationalismus entstand bereits in der Habsburger Monarchie, als die Ungarn, Tschechen und andere Nationalitäten auch Rechte forderten. Er war aber nicht erfolgreich, und das führte zu sehr problematischen Ressentiments und vor allem Antisemitismus. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Ukraine in einer schwachen Situation. Die Sowjets waren in der Donbassregion gut etabliert, aber nicht im Westen, der Region Galizien. Daher gab es Widerstände gegen die Sowjets. Der Charakter dieses Widerstands war rechts. Und dann kam 1932 die Hungersnot. Als dann die Naziinvasion mittels der »Operation Barbarossa« begann, gab es einen großen Drang von seiten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), mit den Nazis zu kollaborieren.
Wie ging es dann nach dem Ende der Sowjetunion weiter?
Auch die Phase nach 1989 konnte diese Probleme nicht lösen. Es entstand ein Land, das zwischen Osten und Westen gespalten war. Die wirtschaftliche Schocktherapie etablierte eine nicht geeinte Oligarchie. In Russland konnte durch den Nationalismus von Putin und seinem Krieg gegen Tschetschenien die Oligarchie geeint werden. In der Ukraine wurde das nicht geschafft, und so blieb die Spaltung bestehen. Die Ukraine blieb also sehr vulnerabel und konnte weder westlicher noch russischer Manipulation standhalten.
Diese Kräfte waren bereits 2004 während der sogenannten Orangen Revolution im Spiel. Besonders sichtbar wurden sie dann mit dem Aufstand am Maidan 2014. Das war ein populärer Volksaufstand gegen die prorussischen Oligarchen um die Partei der Regionen. Bereits da ist aber die Spaltung zwischen prowestlichen demokratischen und rechtsextremen, reaktionären Elementen sichtbar. Sieger dieser Auseinandersetzungen war der »Rechte Sektor«.
Zugleich entstand der Bürgerkrieg, in dem sich beide Seiten vorgeworfen haben, Faschisten zu sein. Dieser Bürgerkrieg diente zur Vorbereitung des Kriegs ab 2022. Doch niemanden hat es interessiert. In Westeuropa hat das niemand beachtet.
Welchen Charakter hat dieser Krieg?
Er hat drei Dimensionen. Erstens, die nationale Befreiung der Ukraine. Zweitens, der innerimperialistische Krieg zwischen dem neoimperialistischen Russland und dem transatlantischen Imperialismus. Drittens, die systemische Krise der westlichen Hegemonie durch den Wettbewerb mit China. Diese drei Dimensionen zusammen führen dazu, dass es keinen Frieden, aber auch keinen Sieg am Schlachtfeld geben kann. Die Ukraine wird diesen Krieg nicht gewinnen, und auch Russland kann militärisch nicht gewinnen.
Der Krieg kann noch lange dauern. Ich weiß nicht, wann und ob er enden wird. Er wird sich hinziehen, und die Ukraine wird zerstört. Es ist gut möglich, dass das Land die größten Zerstörungen in seiner Geschichte erleben wird, vielleicht sogar mehr als im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee sagt nun, dass es ein Grabenkampf wie damals im Ersten Weltkrieg sei. Das ist eine klare Botschaft: Wir brauchen mehr Waffen, weil wir nicht vorankommen. Von einigen Seiten gibt es daher die Rufe, vielleicht doch zu einem Waffenstillstand zu gelangen, aber das wird nicht erfolgreich sein.
Wir erkennen mit dem neuerlichen Beginn der Kämpfe in Palästina, dass das Schlachtfeld ein globales wird, zumindest aber ein transkontinentales. Das ist die schreckliche Situation, in der wir uns derzeit befinden.
Vor allem seit 2014 sind Sie in engem und ständigen Kontakt mit ukrainischen Aktivisten.
Ich treffe sie sehr oft bei politischen Zusammenkünften vor allem in Südeuropa. Ich kann mich erinnern, es gab eine große Konferenz im Reina-Sofia-Museum in Madrid, als Russland die Krim einverleibte. Spanische Politiker und Aktivisten aus der Ukraine waren da, und so war es eine Möglichkeit, den Euromaidan zu problematisieren. Ich kannte die Aktivisten, und ich persönlich stand dem Euromaidan damals durchaus positiv gegenüber. Da war eine Bewegung, die gegen eine autoritäre Regierung auftrat und als Gegner einige extreme Rechte hatte. Es hing aber alles an der Frage: Wer wird gewinnen? Und manche (in der ukrainischen Linken, jW) verstanden das nicht. Da war Wassil Tscherepanin, der heutige Direktor der Kiew Biennale, und heute ist er völlig im Selenskij-Lager. Damals kannte Selenskij jeder nur als Schauspieler.
2016 wurde Wassil von diesen Leuten (aus dem Umfeld von Selenskij, jW) fast getötet. Es gab einen Anschlag auf ihn. Irgendwie haben wir den Kontakt verloren. Zu dieser Zeit gingen viele andere Sachen vor sich, wie »Brexit« und Syriza in Griechenland, und in Spanien lag der Fokus von uns Aktivisten einfach woanders, obwohl ich versuchte, die Situation zu verfolgen. Es kam dann in diesen Jahren zu einer Umgruppierung, und die Leute, die sich damals politisch gegenübergestanden haben, haben sich zu einer Art nationalen Front zusammengeschlossen, die aus den Rechtsextremen und den prowestlichen Demokraten besteht.
Das macht die ganze ukrainische Sache aus der Perspektive der antisystemischen Bewegungen in Europa so schwierig. Wir waren in der Vergangenheit gewöhnt daran, die NATO zu bekämpfen. Wir haben heute die Situation, dass wir gleichfalls den NATO-Imperialismus und den Neoimperialismus von Russland bekämpfen müssen, und dann sagen mir meine Genossen in der Ukraine: Wir müssen gemeinsam mit den Faschisten von »Asow« kämpfen. Das sind Leute, die Nazikollaborateure rehabilitieren möchten und Naziverbrecher als Nationalhelden feiern, die Hunderttausende Bolschewiki, Juden und Russen in den zwei Jahren, als Bandera mit den Nazis zusammenarbeitete, ermordet haben.
Das ist die schlimme Lage, in die wir heute geworfen sind. Ich nenne es »Campismus«: Entweder du bist im NATO-Lager oder im russischen Lager. Daher ist die Lage vielleicht fataler als im Ersten Weltkrieg.
Aber nicht nur in der Ukraine, auch in vielen westeuropäischen Ländern verhalten sich linke Aktivisten ähnlich. Es wirkt fast so, als wäre die prinzipielle Ablehnung imperialistischer Kriege in der europäischen Linken verlorengegangen. Manche, etwa in der Partei Die Linke, gehen sogar so weit und fordern Waffenlieferungen an die Ukraine.
Ich möchte hier zwischen der deutschen Linken und den Grünen und den vergleichbaren Parteien in Spanien unterscheiden. Was die Grünen in Deutschland sind, wäre in Spanien etwa Sumar und Politiker wie Ada Colau. Die sind in privaten Gesprächen sehr klar links und lehnen den Krieg ab. Aber die Realpolitik von ihnen sieht anders aus, da sie sagen, dass die spanische Wirtschaft von den Unterstützungen der EU-Kommission abhängt. Die Geldtöpfe in Brüssel seien so wichtig, und daher meinen sie: Konzentrieren wir uns auf Innenpolitik, und sagen wir in anderen Fragen nur ein Minimum. Konzentrieren wir uns darauf, was wirklich wichtig ist. Dann würde man Brüssel weiterhin zufriedenstellen.
Podemos ist anders. Sie waren von Beginn an gegen diese Politik. Podemos war von Beginn an gegen Waffenlieferungen, denn Russland kann von der Ukraine nicht militärisch besiegt werden. Hier steht der Ukraine eine Atommacht gegenüber, und wenn die in eine existentielle Krise schlittert, wird Putin natürlich alles daransetzen, seinen Hintern zu retten. Es geht also in Richtung einer Katastrophe. Nach zwei Jahren Vertreibungen von Millionen von Menschen und mehr als hunderttausend toten Soldaten insgesamt sind beide Seiten immer noch genau dort wie im Februar 2022.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass eine neue emanzipatorische Politik notwendig ist. Wie kann das erreicht werden, in der schwierigen Situation, in der die Linke derzeit ist, wie Sie es darlegen.
In Europa sind Kriegsregime entstanden. Die Kriege werden aber außerhalb der eigenen Grenzen geführt: in der Ukraine, Afrika und Palästina. Zugleich wird im Inneren die Demokratie abgebaut. Das ist nicht so dahingesagt, sondern passiert ganz konkret mit der Einschränkung der Versammlungsfreiheit in den letzten Wochen. Es ist Interesse da, politisch aktiv zu sein, aber die Atmosphäre ist vergiftet. Wir leben in einem Ausnahmezustand. Es ist gefährlich, seine Meinung zu äußern.
Schauen wir uns die Reden von Robert Habeck an, in denen er zuletzt immer wieder ein falsches Verständnis von Antisemitismus gezeigt und dann auch noch dazu Antisemitismus direkt mit subalternen Subjekten in Verbindung gesetzt hat: Araber, Türken, Kurden – nur weil sie propalästinensisch und muslimisch sind. Dadurch schaffen die liberalen Politiker in Europa die Bedingungen für Diktaturen im Namen des Kampfs gegen die Diktatur. Sie bewerben protofaschistische Tendenzen, und dadurch sind diese Politiker unsere Hauptfeinde. Es ist ein Ausdruck der Krise des nordischen Kapitalismus, der nicht mit den ökologischen Limitierungen kapitalistischer Entwicklung zurechtkommt.
Was ist demzufolge zu tun?
Wir müssen der Krise des Kapitalismus – deren Ausdruck diese Kriege sind – dringend etwas Positives entgegensetzen: eine Synthese aus den unterschiedlichen Strömungen. Ich glaube, konstituierende Republiken in Europa zu schaffen wäre eine Möglichkeit. Die Zusammenführung von Revolten, Protesten und Klassenkämpfen, die neue Zusammensetzung der Arbeiterklasse, die in Europa nicht mehr weiß, männlich und industriell repräsentiert ist. Die neue Arbeiterklasse ist weiblich, transsexuell, prekär, informell. Die muss mit der weißen Arbeiterklasse in den Kämpfen gegen alle Formen der Ausbeutung in jedem Bereich des Lebens verbunden werden. Klassenkampf ist nicht nur für Löhne, sondern auch Rechte, Räume und Institutionen.
Ich glaube, eine kommunistische Entwicklung sollte das sozialistische Stadium abwerfen. Der Übergang zum Sozialismus bedeutet ein Erstarken des Staats an der Stelle von Demokratie. Ich glaube aber, dass die neue Struktur der Arbeit und die neuen gesellschaftlichen Bedingungen es erlauben, einen schwachen Staat und eine neue Verteilungsdemokratie zu etablieren. Diese wäre in der Lage, sich zu verteidigen, die Produktion zu regeln und finanzielle Transaktionen zu kontrollieren. Ich stelle mir eine gemeinsame Produktionsweise basierend auf den Kommunen vor. Die wichtigste Aufgabe der Produktion und Reproduktion muss das Leben selbst sein: die Erhaltung von Leben und Ökosystemen über Generationen hinweg. Bildung, Gesundheit, ökologische Veränderung, globale Gerechtigkeit, Energiewirtschaft, niedriges Wachstum, usw. Es bedeutet aber auch Enteignung von Kapital. Der Klassenkampfcharakter darf nicht vernachlässigt werden.
Wir müssen die Enteigner enteignen, bevor jeder stirbt. Aber zugleich bedeutet das nicht, dass wir zurück zum alten sozialistischen Bild eines produktivistisch hochstilisierten Modells kommen, das uns alle zurück in die Fabrik schickt. Es muss statt dessen eine subalterne, ökologische, feministische, aber auch humane Produktionsweise sein. Wir sind in der Lage, eine Produktionsweise zu etablieren, die das Leben in den Mittelpunkt stellt und ganz einfach ausgedrückt ein gutes Leben ermöglicht, so wie es die ecuadorianischen und bolivarischen Verfassungen vorzeigen. Das Ziel der Politik muss ein gutes Leben für jeden sein. Ich glaube, das sollte der Inhalt jeder kommunistischen Politik heute sein.
Und wie kommt man dahin?
Das kann nur erreicht werden, wenn es zumindest ein transeuropäisches Projekt ist. Aber es muss auch ein nichtweißes Projekt sein, denn es muss verstehen, dass wir in einer globalen Gesellschaft leben. Der Krieg hat bereits begonnen, und überall wächst der Einfluss von faschistischen Kräften. Die alten, progressiven und sozialdemokratischen Kräfte sind bereit, mit der extremen Rechten auf EU-Ebene zu koalieren, das wird sich nach den EU-Wahlen 2024 zeigen. In dieser Situation brauchen wir ein neues Projekt, dass Hoffnung gibt und Interesse und Wünsche schaffen kann. Wir werden nichts erreichen, wenn wir um das kleinste Übel kämpfen, in anderen Worten: wenn wir einfach dafür kämpfen, den bestehenden Mist zu konservieren.
Die Menschen im globalen Süden haben bereits verloren. Die können nicht, wie es bei uns Grüne und Progressive sagen, die Ausuferungen des Systems minimieren, damit es nicht zu einem »autoritären Wandel« kommt. Die Migranten in unserer Gesellschaft leiden unter den Entwicklungen im globalen Süden. Diese Menschen können sich nicht mit irgendwelchen Projekten identifizieren, die das Bestehende erhalten wollen.
Im Buch fordern Sie einen »konstituierenden Frieden«. Was meinen Sie damit?
Es hängt mit dem zusammen, was ich gerade gesagt habe: Im Krieg kann es keine Demokratie geben. Aber Frieden ist nicht genug, sondern nur die Speerspitze unserer Forderungen, die eine konstituierende Plattform schaffen. Auch bei den Bolschewiki war es so. Ihre Forderung war Frieden und Brot. Solche Forderungen brauchen wir auch, ich denke an ein globales bedingungsloses Grundeinkommen, Reisefreiheit für die Arbeiterklasse und die subalterne Klasse. Dafür bedarf es eine Wiederaneignung der Produktionsmittel, um eine kommunenbasierende Produktionsweise aufzubauen.
Um das zu erreichen, braucht es aber eine neue Koalition, ein neues politisches Subjekt, das nur aus den Kämpfen heraus entstehen kann. Taktische Plattformen sind keine Lösung. Die Grünen in Deutschland sagen, wenn die AfD und die Neonazis geschlagen sind, dann leben wir im Paradies. Das ist völliger Blödsinn. Das Problem ist, dass die Demokratien oligarchisch geworden sind und einen großen Teil der nichtweißen, aber auch der weißen Bevölkerung ausschließen. Das ist die neue Verfassung der liberalen Demokratie. Das ist nicht temporär, sondern der neue Charakter des Kapitalismus. Die großen liberalen Errungenschaften des Kapitalismus von 1945 bis zum Maastricht-Europa sind vorbei. Die Demokratie ist verfault. Ich glaube, dagegen ist der »konstituierende Frieden« eine Losung, um eine Diskussion anzustoßen, um neue Wege zu finden, jenseits der etablierten Parteien, Institutionen und Strukturen.
Raúl Sánchez Cedillo, 1969 in Madrid geboren, ist Philosoph. Er setzt sich seit Ende der 1990er Jahre als politischer Aktivist in Spanien für eine Neugründung Europas durch einen konstituierenden Prozess ein. Er ist Mitglied der Fundación de los Comunes, einem Netzwerk aus Bildungs- und Kulturinstitutionen, Medienprojekten und Einzelpersonen, das das Ziel verfolgt, neue gesellschaftliche Institutionsformen zu erarbeiten, sowie der Universidad Nómada, die inspiriert von der italienischen Erfahrung der Autonomia gesellschaftliche Forschung und Wissensvermittlung organisiert. Seit der Zeit der Maidan-Proteste 2014 ist er in engem Kontakt mit unabhängigen künstlerischen und politischen Initiativen in der Ukraine. Sein Buch »Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine: Argumente für einen konstituierenden Frieden« erschien im Frühjahr 2023 in Kooperation mit Medico international beim Wiener Verlag Transversal Texts
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martina D. aus 15306 Vierlinden bei Seelow (22. November 2023 um 07:25 Uhr)Wir sollen also mit einer transsexuellen Arbeiterklasse für den Kommunismus kämpfen, den Sozialismus dabei weglassen, weil uns die Besitzer der global verflochtenen Monopole ihr Eigentum an Produktionsmitteln friedlich überlassen, das Ganze in transeuropäischen Kommunen organisieren, aber bitte nicht in Fabriken arbeiten, also zurück zur Natur. Gut, dass ich das nicht mehr erleben muss. Diese wirren Ansichten des spanischen Philosophen bilden vermutlich die Weltanschauung vieler westlicher Intellektueller, die sich als Linke fühlen. »Es ist Interesse da, politisch aktiv zu sein« – aber kein Interesse, sich mit Klassenanalysen, politischer Ökonomie, historischem Materialismus zu befassen, sich Grundkenntnisse darüber anzueignen, wie die kapitalistische Gesellschaft funktioniert. Ist ja auch anstrengend, bei Marx, Engels und Lenin nachzulesen, wahrscheinlich gerade nicht »in«, nicht »Kult«. Würde aber helfen, bevor man sich in »Synthesen aus unterschiedlichen (sprich: chaotischen) Strömumgen« organisiert. Ich würde mich freuen, wenn eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf dieses Interview erschiene.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (21. November 2023 um 13:14 Uhr)»Die neue Arbeiterklasse ist weiblich, transsexuell, prekär, informell.« Auf diese Idee konnten Marx und Lenin aufgrund ihrer Beschränktheit natürlich nicht kommen. Für solche Erkenntnisse braucht es schon Philosophen des 21. Jahrhunderts. Wie hilfreich ist ein Interview mit einem Aktivisten, der dem »Euromaidan damals durchaus positiv gegenüberstand«. Nur damals? Zweifel sind angebracht, weil der seit 2014 andauernde Krieg der Kiewer Putschisten (für Sánchez Cedillo war der Putsch ein »populärer Volksaufstand«) gegen die Bevölkerung des Donbass in diesem Gespräch mit keinem Wort erwähnt wird. Auch die NATO-Osterweiterung hat nicht stattgefunden. Mit solchen Kleinigkeiten beschäftigt sich unser Philosoph nicht. Um diese Themen zu umgehen, geht er bei der Vorgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg zurück. Warum nicht gleich bis zur Steinzeit? Immerhin wissen wir jetzt, dass »wir den Neoimperialismus von Russland bekämpfen müssen«. Russland genauso schlimm wie die NATO, alles Jacke wie Hose.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. November 2023 um 22:09 Uhr)Was bedeutet der Begriff »Ukraine« im einführenden Satz des Artikels? Zitat: »Die Ukraine war immer schon eine ungelöste Frage in Europa, das zieht sich seit Jahrhunderten, aber wurde besonders akut nach dem Ersten Weltkrieg.« Welche Bedeutung gibt der Autor dem Begriff »die Ukraine«? Bezieht er sich auf das Grenzgebiet als Begriff an sich? Die Verwendung und Formulierung seiner Aussage sind problematisch, da sie suggerieren, dass es seit Jahrhunderten eine »Ukraine« geben sollte, was historisch nicht korrekt ist! Erst nach der Oktoberrevolution von 1917 erklärte die Zentralna Rada, ein ukrainisches politisches Organ, die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik. Es stimmt, jedoch ohne kulturellen, traditionellen und festen territorialen Umfang! Während ihrer kurzen Existenz (1917–21) kämpfte die junge Ukrainische Volksrepublik schon gegen verschiedene Gegner, darunter die Rote Armee, die Weiße Armee und Polen. Die territoriale Ausdehnung der Ukrainischen Volksrepublik variierte schon auch erheblich während ihrer kurzen Existenz und umfasste im Allgemeinen nur die mittleren Gebiete der heutigen Ukraine. Gleichzeitig wurde Westukraine, einschließlich Galizien, von Polen annektiert. Letztendlich wurde sie von den Bolschewiki besiegt, und die Ukraine wurde Teil der Sowjetunion. Es ist wichtig festzustellen, dass die Grenzen der Ukraine, wie sie 1991, nach der Auflösung der Sowjetunion entstanden sind, historisch niemals existierten und auch in Zukunft höchstwahrscheinlich nicht wieder auftauchen werden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (18. November 2023 um 10:07 Uhr)Liest man dieses Interview genauer, fasst es fast genau all jene »allmenschlichen« Illusionen zusammen, gegen die die jW seit Jahr und Tag anschreibt. Die Klassen sind verschwunden und damit auch die geopolitische Komponente des Kampfes des Kapitals mit ihnen. Imaginäre Kräfte bewegen die Welt und moralisierende Kräfte werden sie verändern. Damit sind wir wieder auf dem Erkenntnisstand des frühen Christentums von vor zweitausend Jahren. Natürlich darf ein »linker spanischer Philosoph« so denken. Sehr hilfreich ist das allerdings nicht. Ganz im Gegenteil.
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