Der schwierige Gast
Von Henning von Stoltzenberg
Inmitten scharfer Kritik empfing Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Freitag den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu einem Treffen in Berlin. Für den Kanzler ist das Staatstreffen mehr und mehr zum Drahtseilakt geworden. Themen der Zusammenkunft waren nach Angaben der Bundesregierung vor allem der Krieg in Gaza sowie das Geflüchtetenabkommen zwischen der EU und Ankara. Daneben beabsichtigt die Türkei, 40 »Eurofighter« zu kaufen, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag in Berlin bestätigte. Für ein Exportgeschäft ist die Zustimmung der Bundesregierung notwendig.
Der türkische Präsident hatte sich in jüngster Vergangenheit gegen das militärische Vorgehen gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza ausgesprochen und das israelische Regime als »Terrorstaat«, die Hamas hingegen als »Befreiungsorganisation« bezeichnet.
Die fundamentalistische Organisation, die sich auf der EU-Terrorliste befindet, war erst am 2. November von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit einem Betätigungsverbot in der BRD belegt worden. Gleichzeitig war das linksgerichtete Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene, Samidoun, verboten worden.
Der Kanzler und die Bundesregierung müssen sich fragen lassen, wieso bundesweit Proteste der palästinensischen Exilcommunity mit dem Verweis auf vermeintliche Hamas-Parolen verboten und die Teilnehmer kriminalisiert werden, während der türkische Staatspräsident zu Gesprächen empfangen wird.
Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz (SPD) verteidigte das Treffen. Trotz der »gravierenden Differenzen« sei es »sehr wichtig«, in dieser »unglaublich angespannten Lage« miteinander zu sprechen, sagte sie gegenüber RBB 24. Erdoğan komme zwar als Vermittler wegen seiner Äußerungen nicht in Frage. Aber er könne dennoch eine positive Rolle im Konflikt spielen. »Er hat natürlich diese Kontakte zur Hamas«, erklärte die SPD-Politikerin, »das ist unbestreitbar, und er könnte eben mäßigend einwirken, zumindest auf einer Seite.«
Josef Schuster, Präsident Zentralrates der Juden in Deutschland, kritisierte den Besuch Erdoğans gegenüber RND. Wer das »Existenzrecht Israels nicht nur leugne, sondern aktiv bekämpfe«, dürfe kein Partner für die deutsche Politik sein. Der Besuch des türkischen Staatspräsidenten müsse vom Bundeskanzler dafür genutzt werden, Erdoğan ganz klar deutlich zu machen, dass seine »Relativierung des Hamas-Terrors« unter »keinen Umständen« akzeptiert würde.
Kritik kam zudem von der Linken. Gökay Akbulut, migrationspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag sowie stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe, erklärte, die Bundesregierung müsse Erdoğan auffordern, die »permanenten völkerrechtswidrigen Angriffe auf Kurdinnen und Kurden im Nordirak und Nordsyrien« zu stoppen. Unter Erdoğan sei die türkische Demokratie um Jahrzehnte zurückgeworfen worden. Oppositionelle seien Repressionen ausgesetzt, Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte würden nicht umgesetzt. Diese Missstände müssten »klar und deutlich kritisiert und Verbesserungen eingefordert werden«, so Akbulut.
Die Föderation der Kurdinnen und Kurden in Ostdeutschland (Fed-Kurd) ruft für Sonnabend zu einer Demonstration in Berlin gegen das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf, das seit 1993 besteht. Der Verband fordert vom deutschen Staat zudem eine Entschuldigung beim kurdischen Volk und der Freiheitsbewegung. In einem Statement erklärte ein Sprecher gegenüber ANF, die kurdische Bewegung diene mit ihrem »demokratischen, ökologischen und frauenbefreienden Paradigma allen Menschen« und setze sich dafür ein, dass »Menschen im Nahen Osten, in Kurdistan und weltweit ein Leben in Freiheit und Würde aufbauen können«. Durch das Verbot der PKK seien kurdische Einrichtungen und Tausende von Kurdinnen und Kurden in den vergangenen dreißig Jahren kriminalisiert worden. Man fordere den deutschen Staat auf, sich an den positiven Entscheidungen, die Luxemburg 2018 und Belgien 2020 in Bezug auf die PKK getroffen haben, ein Beispiel zu nehmen und dieses Verbot sofort aufzuheben.
Während des Besuchs galt nach Polizeiangaben die höchste Sicherheitsstufe, mehr als 1.500 Beamte waren demnach im Einsatz.
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Leserbrief von Rainer Kral aus Potsdam (18. November 2023 um 08:04 Uhr)Erdoğan ist der einzige Politiker von Rang, der sich intensiv für die Palästinenser einsetzt. Und er hat auch kein Problem damit, Tacheles zu reden. Dass dies in der westlichen Welt nicht gut ankommt, ist ja klar. Dass die Aussagen Erdoğans damit nicht automatisch falsch sind, ist ebenfalls klar. Wenn ein Staat sein Selbstverfügungsrecht ohne Rücksicht auf Zivilisten wahrnimmt, den Tot von mehr als 10.000 Kinder, Frauen und alten Leuten billigend in Kauf nimmt, der hat den Titel, den Erdogan ihm verliehen hat, verdient. In diesem Zusammenhang ist übrigens noch immer ungeklärt, und darüber spricht man im Westen nicht gern und in Israel gar nicht, wie die Hamas unbemerkt (?) den großangelegten Angriff auf seinen Nachbarn planen und durchführen konnte. Schließlich haben wir es mit dem Mossad ja angeblich mit dem besten Geheimdienst der Welt zu tun, der intensiv mit NSA, CIA und MI6 Daten austauscht und mit Sicherheit seine V-Leute im Gaza-Streifen platziert hat. Denn in diesem Fall hat man wider besseres Wissen das Leben der eigenen Bevölkerung geopfert, um einen Vorwand für die Beseitigung des Gaza-Streifens unter palästinensischer Führung zu haben.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. November 2023 um 12:15 Uhr)Lieber Rainer Kral, das mit dem »einzigen Politiker von Rang« würde ich dann doch an Ihrer Stelle noch einmal überdenken. Oder liegen Länder wie China, Russland, Indien, der Iran, Brasilien, Ecuador, Venezuela, Südafrika, Saudi-Arabien, Katar und viele, viele andere nicht mehr auf dieser Erde?
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Leserbrief von Rainer Kral aus Potsdam (20. November 2023 um 13:40 Uhr)Sie haben recht, gemeint war der einzige Politiker von Rang eines NATO-Landes.
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