Sag einfach ab
Von Jan Decker
Als der 22jährige italienische Tennisspieler Jannik Sinner, im Augenblick die Nummer vier der Weltrangliste, vor zwei Wochen beim ATP-Masters-Turnier in Paris-Bercy trotz Erreichen des Achtelfinales hinschmiss, setzte eine Welle der Solidarisierung mit ihm ein, auch Kollegen aus der Tenniselite wie der Norweger Casper Ruud zeigten Verständnis (»Was für ein Witz!«). Aber was war geschehen?
Da man in Paris-Bercy fast alle Spiele des Turniers auf dem Centre-Court austragen ließ – es sollte eben möglichst immer die größte Halle mit zahlenden Gästen gefüllt sein, gleichzeitig durften wegen der Komplettübertragung des Turniers auf »Tennis TV«, dem hauseigenen Streamingdienst der Spielervereinigung ATP, keine störenden Pausen zwischen den Matches entstehen –, konnte die Abendsession mit zwei Spielen teilweise erst um 22 Uhr beginnen. Hinzu kommt die Tendenz im gegenwärtigen Herrentennis, sich in endlosen Grundlinienduellen wechselseitig die letzten Kräfte zu rauben. Wodurch selbst bei solchen Turnieren wie dem in Paris-Bercy, wo zwei Gewinnsätze zum Sieg reichen – nur bei den Grand-Slam-Turnieren sind es ja drei – die Spiele mittlerweile selten unter zwei Stunden dauern.
Also trugen Sinner und sein US-amerikanischer Gegner Mackenzie McDonald den ersten Ballwechsel ihres Spiels um 0.10 Uhr aus. Bedenkt man, dass die Kontrahenten nach Sinners vollendetem Matchball ganze zwei Stunden und 14 Minuten später noch zwei, drei weitere Stunden für Pressetermine und das körperliche wie psychische Herunterkommen brauchen, dürften sie um fünf Uhr morgens im Bett gelegen haben. Kein Problem für den Unterlegenen, aber wohl für den Sieger, für den das Turnier weitergeht.
Der nächtliche Matchbeginn in Paris-Bercy wurde aber erst zu einem Politikum, als der Italiener sein nächstes Spiel am selben Tag absagte – notgedrungen. Sein Kollege Ruud mag unterdessen beides als Witz empfunden haben: die durch die Turnierleitung um den ehemaligen Tennisprofi Cédric Pioline verschuldete Nachtschicht wie die ebenfalls unsinnige nächste Spielansetzung für Sinner gegen den Australier Alex de Minaur um 17 Uhr an diesem Tag. Keine ausreichende Regenerationszeit also, gefährlich für den geschundenen Sportlerkörper.
Immer wieder sagen Tennisspieler allerdings kurzfristig Spiele ab, und nicht nur wegen solcher Benachteiligungen. Man schont sich auch schon einmal für ein nächstes wichtigeres Turnier, wenn man die nötigen Weltranglistenpunkte beisammen hat, es geht ja auch stets um das Erreichen eines der größten Saisonziele: die ATP-Finals in Turin, welche Mitte November die acht erfolgreichsten Spieler eines Kalenderjahrs bestreiten. So hätte man Sinners Rückzug ja auch deuten können, denn diese ATP-Finals finden eben zwei Wochen nach Paris-Bercy statt. Aber der Südtiroler war schon vorher für Turin qualifiziert.
Und die Spieler im Profitennis, Herren wie Damen, plagt gleichfalls ein immer enger getakteter Turnierkalender. In den vergangenen Jahren sorgten immer wieder Verletzungen für Schlagzeilen, die durch Ermüdung ausgelöst zu sein schienen. Beim 20jährigen Spanier Carlos Alcaraz, in diesem Jahr für einige Monate die Nummer eins der Welt, die jüngste bisher, häuften sich zuletzt solche verletzungsbedingten Ausfälle – er steht ebenso sinnbildlich für den schmalen Grat zwischen immerwährender Hochleistungspräsenz auf dem Tennisplatz und der geteilten Sorge der Tennisfachwelt, dieses Ball- und Athletikgenie könne allzu schnell verheizt werden.
Der Fall Sinner könnte eine Reaktion auf diese Entwicklungen sein. Denn sein neuer Trainerstab um den Australier Darren Cahill verkündete kürzlich, die körperliche und mentale Belastungsgrenze ihres Zöglings sei fortan ein Faktor beim Erstellen seines Turnierkalenders. Wer Sinner Ende Oktober beim Finale des ATP-Turniers in Wien aufschlagen sah, erlebte denn auch einen ausgeruhten, kompletten Spieler, der gegen den Russen Daniil Medwedew, Vorjahressieger in Wien und der gefürchtetste Returnspieler der Welt, gleich eine andere Vorgabe seines Trainers umsetzte: durch Stoppbälle und ungewöhnliche Entscheidungen die langen Grundlinienduelle bewusst abzukürzen, um die sinnlose Selbstausbeutung zu beenden. Wenn an diesem Wochenende in Turin der Sieger der ATP-Finals 2023 bestimmt wird, dürfte Sinner gerade deshalb einer der heißesten Aspiranten sein. Den Matchball in seinem Vorrundenspiel gegen die Nummer eins der Welt, den Serben Novak Đoković, vollendete er übrigens am Dienstag um 0.11 Uhr Ortszeit.
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vom 17.11.2023