Alles brüllt vor Glück
Von Maximilian Schäffer
Man kann sich nicht beschweren. Wo bekommt der brave Bürger noch vier Stunden unterhaltsame Gewalt mit über 30 Akteuren auf der Bühne für unter 20 Euro zu sehen? Im Catchsaal Kreuzberg wird von der German Wrestling Federation (GWF) seit nunmehr 28 Jahren Qualitätsstumpfsinn für jung und alt geboten. Das Publikum könnte tatsächlich eine repräsentative Umfragemasse der deutschen Schweinenation abgeben. Studenten und Rentner, Proleten und Akademiker, Ost- und Westdeutsche, Frauen (geschätzte 40 Prozent) und Pumper – alles brüllt gegen imaginäre Feinde.
Beim Wrestling gibt es keinen Hass. Wie auf der Weltbühne werden die Verträge zuvor emotionslos geschlossen, dann kämpft das Schlachtvieh ums goldene Kalb. Hier ist es ein Ledergürtel mit güldenem Beschlag – ein Weltmeistertitel, dessen Strahlkraft sich nicht wesentlich über Königs Wusterhausen hinaus erstrecken dürfte. Fairerweise ist das »Pro Wrestling«, wie es sich terminologisch im Englischen vom olympischen Ringen abgrenzt, in Europa eine Angelegenheit von eingeschworenen Athleten und Fans. Seit Jahren stellt die GWF in Eigenregie verschiedene semifiktionale Seifenopern und Talentwettbewerbe zur Ergänzung der Live-Events für Youtube her. Die Anzahl der Klicks bewegt sich meist im vier- bis in den unteren fünfstelligen Bereich, das ist trotzdem ein Achtungserfolg gegenüber dem milliardenschweren Weltmarktführer WWE (World Wrestling Entertainment), dessen Einschaltquoten sich seit einem Jahrzehnt im Keller befinden.
Die GWF inszeniert sich sympathisch und erfolgreich als Heimspiel für die Berliner Community mit internationalem Anspruch. Das Event vom vergangenen Sonntag wird live auf Youtube übertragen, mit mehreren stationären und mobilen Kameras gefilmt und in drei Sprachen kommentiert. Es ist die wichtigste Großveranstaltung des Jahres, »Legacy« heißt das »Wrestlemania« der Liga. Über 600 Zuschauer haben sich versammelt, in schönstem Lokalkolorit tönt es unisono aus dem Publikum: »Auf die Fresse! Auf die Fresse!« Niemand wird verschont – der Safe Space für Migranten, Frauen, Homosexuelle … entsteht durch die gleichberechtigte Diskriminierung aller Akteure: »Bring die Alte um!« – »Erkan(n) gar nix!«
Abseits aller Attitüde stehen sportliche Spektakel im Vordergrund, deren Professionalität und Glaubwürdigkeit außer Frage stehen. Repräsentativ für das moderne Wrestling bekommt der Gast internationale Einflüsse serviert. Der mexikanischen Tradition des Lucha Libre gemäß, zeigen Péter Tihanyi aus Ungarn und Fast Time Moodo aus Leipzig im zweiten Match des Abends viele akrobatische Sprungaktionen im Ring und über die Seile. In der vierten Begegnung geben sich der gebürtige Russe Crowchester und der Niedersachse (»Was kann Hannover dafür, dass du scheiße bist!?«) Tim Stübing die Ehre in einem eher der japanischen Tradition des Puroresu entsprechendem Leitermatch. Komplexe Würfe und hochgefährliche Interaktionen mit der handwerklichen Gerätschaft veranlassen die Masse zu schmerzhaften Gesichtsverrenkungen. Der »Berlin Title« wechselt an den kajalgeschminkten Mann im Krähenkostüm. Beim Main Event des Abends gibt es klassisch europäisch-amerikanische Action der großen schweren Männer zu sehen. Anders als in den 70ern wird hier jedoch nicht mehr nur geschlagen und einfach über die Schulter geworfen. Hauptstadtikone Pascal Spalter, 115 kg bei 1,91 Körpergröße, zeigt seinen ebenso ikonischen Frog Splash von der Spitze der Ringecke. Die »belgische Kriegsmaschine« Mike D. Vecchio, 105 Kilo auf 1,80 Meter, landet im Vorwärtssalto auf dem amtierenden Champion Metehan und sichert sich mit seiner eigenen Interperation der »Powerbomb« schlussendlich den verdienten »GWF World Title«.
Wegen der Krise auf dem US-amerikanischen Markt plant das WWE-Imperium die Expansion aufs europäische Festland. Ein Ableger des Nachwuchsformats »NXT« soll sich in Zukunft nicht mehr nur auf Großbritannien beschränken. Die europäische Independentszene versetzt das durchaus in Sorge, weil Geld und Ruhm jedem Vollprofi mit Nebenjob verständlicherweise nicht egal sein können. Im Catchsaal Kreuzberg ist man Blut und Schweiß dennoch viel näher als in der Mercedes-Benz-Arena und kann sich neben dem Eintrittspreis noch sieben Bier leisten. Insofern ist die GWF strategisch vorteilhaft plaziert – schön, dass es sie gibt!
Nächster Catch: 3.12., ab 17 Uhr, Festsaal Kreuzberg Berlin
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