Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Gegründet 1947 Mittwoch, 6. Dezember 2023, Nr. 284
Die junge Welt wird von 2753 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Aus: Ausgabe vom 14.11.2023, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Subjekt der Verführung

Comics von Guido Crepax: Ein Sammelband aus dem Avant-Verlag widmet sich »Bianca«
Von Marc Hieronimus
10online.jpg
Keine Pornographie, Erotik: Bianca phantasiert

In den Augen der Fachleute ist 1965 das Jahr Null des italienischen Comics. Im Februar fand in Bordighera der erste Comicsalon statt und behandelte die gezeichneten Geschichten erstmalig in Europa als ernstzunehmende Kunst. Im Folgejahr zog die Veranstaltung für Jahrzehnte nach Lucca und diente u. a. dem französischen Comicsalon Angoulême als Vorbild. Im April 1965 wurde das epochemachende italienische Fumetto-Magazin Linus gegründet. Den Namen bekam es von dem Jungen mit der Schmusedecke aus Charles M. Schulz’ Serie »Peanuts«, die dort neben vielen anderen US-amerikanischen Comicstrips veröffentlicht wurde. Der Herausgeber Giovanni Gandini verstand das Potential des Mediums, bat Intellektuelle wie Umberto Eco um Beiträge und erschloss der breiteren italienischen Öffentlichkeit neben der amerikanischen Gegenkultur viele heute klassische europäische Künstler wie Roland Topor, Hugo Pratt – oder Guido Crepax (1933–2003).

Der Comicforscher Luca Raffaelli schreibt im Vorwort der zwanzigbändigen italienischen Neuauflage von »Valentina« über Linus und 1965: »Der erste italienische Comic erschien mit der Nummer zwei. Nur drei Seiten. Der Autor war Guido Crepax, die Figur war Neutron, mit der Fähigkeit (wie wir später erfuhren), die Zeit anzuhalten. Der Rest des Magazins bestand aus Strips. Die von Crepax waren Seiten. Seltsam zusammengestellte Seiten, mit horizontalen Panels, kleinen Panels, großen unregelmäßigen Panels. Es war eine typisch amerikanische Welt, mit Gangstern namens Jack und Whiskygläsern. Aber es ging auch um Italien und Kunst, Kultur, Maler wie Piero Dorazio und Musiker wie Arnold Schönberg. Im Jahr 1965 sprach ein Mann der Kultur über Kultur in Comics. Das hatte es noch nie gegeben. Es war das Jahr Null.«

Valentina war ursprünglich nur als Nebenfigur geplant, tatsächlich verdrängt sie Neutron nur zu bald und beginnt, Comicgeschichte zu schreiben. Die Abenteuer der Fotojournalistin mit der Louise-Brooks-Frisur sind stilbildend, die Figur ein Rollenmodell für zahllose junge Frauen. Valentina ist nicht Objekt der Begierde, sondern Subjekt der Verführung. Ihre mal traum-, mal alptraumhaften Abenteuer inspirieren und verstören, auch durch Crepax’ revolutionären Zeichenstil mit Pop-Art-Anlehnungen, Stilzitaten, Anspielungen auf Film, Design, Mode, Musik und Literatur und der besagten Bild- und Seitenaufteilung, die über die Jahre noch freier wird. In späteren Geschichten experimentiert Crepax mit verschiedenen Bildumrandungen und zeichnet ganz- und doppelseitige Wimmelpanels, die auch nach minutenlanger Betrachtung noch nicht alle Geheimnisse preisgeben. Valentinas Abenteuer, schreibt die Krimiautorin und Aktivistin der Berliner Frauenbewegung Pieke Biermann im nun erschienenen Sammelband einer anderen Figur von Crepax, wurden in den späten 1960ern zum paradigmatischen Erwachsenencomic. »Bald liegt ihr halb Europa erotisch zu Füßen, und vermutlich auch ihr Erfinder in den folgenden Jahrzehnten. (…) Aber wieso dann noch Bianca?«

Den Stil ändert Crepax nicht, wieder gibt es Experimente und Referenzen, aber »bei Bianca können Szenen aussehen wie (der britische Jugendstilzeichner) Aubrey ­Beardsley goes BDSM. (…) Crepax spielt mit dem Genre und seinen Objekten zu einer Zeit, in der es noch mit Pelzmänteln, Sachertorten und französischen Marquis verwurschtelt wurde und unter dem Titel libertinage einen festen Platz im Visier von Zensurbeamten hatte.« Biermann zitiert Georges Wolinski, der Linus damals als Vorbild für eine französische Comiczeitschrift namens Charlie nahm, mit den Worten: »Crepax zeichnet die schönsten Pobacken in der Geschichte der Comics, und von Comics verstehe ich was.« Heute würde man das wohl als Altherrenhumor bezeichnen. Wolinski sagte an anderer Stelle aber auch, dass Crepax niemals Pornographie gezeichnet habe, immer nur Erotik, und sei es der speziellen Art. Die Grenzen haben sich verschoben, Crepax zeichnerische und erzählerische Kunst sind vielleicht zeitlos. Die Leserschaft urteile selbst.

Guido Crepax: »Bianca«. Avant-Verlag, Berlin 2023, 224 Seiten, 39 Euro

Immer noch kein Abo?

Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.

Ähnliche:

Mehr aus: Feuilleton