Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 11.11.2023, Seite 12 / Thema
Literatur

Poetik des revolutionären Untergrunds

Christian Geisslers »Trilogie des Widerstands« ist nicht nur Auseinandersetzung mit der RAF, sondern fordert auch zum Gespräch auf
Von Dean Wetzel
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Bedingungen für die Kommunikation mit den Genossen von der RAF schaffen (Protest gegen die Folter an politischen Gefangenen, Dortmund, November 1974)

Die Justiz der noch recht jungen Bundesrepublik Deutschland hat sich im Umgang mit politischen Gefangenen nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Die ersten Anhänger der Roten Armee Fraktion (RAF), die 1970 verhaftet wurden, unterlagen sofort außerordentlichen Haftbedingungen. Mit der Verhaftung der Führungsmitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Holger Meins wurden diese Bedingungen nochmals verschärft. Die Isolation der Gefangenen war das offensichtliche Ziel. Sie sollten nicht nur voneinander, sondern auch von anderen Gefangenen und dem allgemeinen sozialen Leben, das unter Einschränkungen ja auch noch unter Haftbedingungen stattfindet, getrennt werden. Dies führte bis zur Einrichtung eines sogenannten Toten Trakts in der Haftanstalt Köln-Ossendorf. Dort herrschten Bedingungen, unter denen Ulrike Meinhof und Astrid Poll schwer litten. Ein Leiden, das lange Zeit nicht ernstgenommen wurde.

Doch innerhalb und außerhalb der Haftanstalten formierte sich Widerstand gegen diese Umstände. 40 Gefangene traten in den Hungerstreik, und in 23 Städten gründeten sich ab dem Mai 1973 »Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD«. Der Schriftsteller Christian Geissler gehörte in Hamburg zu den Gründungsmitgliedern. Er mobilisierte andere Schriftsteller und Journalisten, sich dem Protest anzuschließen, und betonte die Notwendigkeit, den Kontakt zu den Gefangenen nicht abzubrechen. Sein eigenes Engagement setzte er auch nach dem Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Ulrike Meinhof fort, auch wenn er erkennen musste, dass die verbliebenen Inhaftierten sich mehr und mehr der Realität verweigerten und gegen Kritik abschotteten.

Auseinandersetzung mit der RAF

Das besondere an Geissler ist, dass er die Aussagen und Mitteilungen der RAF stets ernst nahm, auch wenn er sie teilweise scharf kritisierte. Im Gegensatz zu anderen hielt er sich aber mit pauschalisierenden Verurteilungen zurück. Für ihn hatte die Bereitschaft zur Auseinandersetzung höchste Priorität: »Niemand soll die Notwendigkeit unterschätzen, im Prozess der Verständigung zwischen drinnen und draußen sorgfältig zu vermitteln und niemand den Schaden missachten, den Demütigungen anrichten.«

Ein Hinweis, den die RAF nicht nur als gegen die bürgerliche Öffentlichkeit, sondern auch als Angriff auf sich verstand. Der Text, aus dem das Zitat stammt, sollte das Vorwort für den zweiten Band, der von Pieter Bakker Schut herausgegebenen Texte des »Info«-Systems der RAF werden, wurde aber von den verbliebenen Gefangenen zurückgewiesen.

Geisslers kritische Solidarität mit den Gefangenen der RAF ist in der medialen Landschaft der BRD einzigartig. Er wagte als einziger, sich in seiner Literatur ernsthaft mit der Möglichkeit des bewaffneten Kampfes auseinanderzusetzen. Dabei wurde ihm die RAF nicht deshalb zum Reflexionsgegenstand, weil er mit ihr besonders sympathisierte, sondern weil er es als notwendig erachtete, alle Möglichkeiten im Kampf gegen die herrschende imperialistische Ordnung zu prüfen. Die Literatur bot ihm dabei die Möglichkeit, ein Szenario zu entwerfen, das be- und hinterfragbar war.

Wie bei kaum einem anderen Autor hängen bei Geissler die politischen Intentionen unmittelbar mit seiner poetologischen Methode zusammen. Der Text selbst soll Autor und Leser zum Übungsfeld der politischen Auseinandersetzung werden. Geisslers literarische Welten sind gespalten in Gegensätze, insbesondere in Klassengegensätze. In ihnen ist Harmonie oder auch das Idyllische nur von äußerst kurzer Dauer. Das Leben, ein zentrales, sich durch alle Romane ziehendes Motiv, ist in Geisslers fiktionaler Welt nie bei sich selbst, sondern eingespannt, verdingt, im Dienst für andere.

Geisslers Prosa könnte man als ein Spiel mit hermetischer Dichtung bezeichnen. Sie ist der das eigene Schweigen zerreißende Schrei; der Versuch, sich verständlich zu machen, unter der Voraussetzung, dass die als verständlich geltende Sprache keinerlei Anzeichen von Verständnis hervorruft. Die Literatur durfte ihm daher nie zum konsumierbaren Gut verkommen. Und so sperren sich seine Texte gegen den verschlingenden und vergessenden Leser, der in der Literatur nur Eskapismus sucht. Durch dieses Sich-Sperren gewinnt sie allerdings ihren Reiz.

In den drei Büchern, die hier näher zu betrachten sind und die auch als »Trilogie des Widerstands« bezeichnet werden, steht die Fragen nach den richtigen Mitteln im Kampf gegen die Unterdrückung, die Frage nach der angemessenen Form des Widerstands im Mittelpunkt.

»Das Brot mit der Feile«

Geissler erzählt in »Das Brot mit der Feile«¹ (1973) die Geschichte des Protagonisten Ahlers in einem unbedingten, unaufhaltbaren Erzählfluss, in dem der Sprecher weder Punkt noch Komma kennt. Er spielt mit den Mitteln der Oralität und bricht bewusst mit grammatikalischen und literarischen Regeln. So wird der Leser nach dem einleitenden Kapitel direkt adressiert und zum Folgen aufgefordert: »Erst mal mitkommen. Erst mal hingehen, wo der Typ wohnt.« Damit macht Geissler direkt klar, dass er in seiner Literatur nichts mit einem distanzierten, unberührt bleibenden Leser anfangen kann. Aber auch den Leser, der sich mit den Figuren identifiziert, kann er nicht gebrauchen. Er möchte Leser, die mit dem Text in eine aufrichtige Auseinandersetzung treten, die die Erzählung und ihre Figuren begleiten, aber ihnen auch nicht unwidersprochen gegenübertreten. Leser, die sich trauen, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen und sich dementsprechend auch mit den unschönen Widersprüchen auseinandersetzen.

Der 17jährige Ahlers, den wir in den Jahren des politischen Aufbruchs der 1960er Jahre begleiten, bietet dabei genügend Widerspruchsfläche. Er ist kein Held der Arbeiterklasse, sondern schlägt sich immer so durch, wie es gerade passt. Die einzige Konstante in seinem Leben ist der Hass auf die Welt: »Alles bloß immer Hund!« Dabei ist er sich über seine eigene Identität und seine Wünsche alles andere als im Klaren. So gerät er trotz seines omnipräsenten Hasses – eher treibend als getrieben – von einer Station seines Lebens zur anderen und lernt, vermittelt durch die Menschen in seiner Umgebung, sich nach und nach mit sich und seiner Umwelt auseinanderzusetzen.

Ein besonderes Augenmerk verlangt der dritte Teil des Romans, der mit »Tage der Befreiung« überschrieben ist. In diesem Teil, der in der Rezeption als schwächster Teil wahrgenommen wurde, kommt Geisslers Stil erst ganz zu sich selbst. Das bedeutet aber auch, dass Ahlers, der uns bis dahin durch den Roman führte und die teilweise nur lose miteinander verwobenen Episoden zusammenhielt, sich bei den anderen Figuren des Romans einreiht und damit seine Funktion als Orientierungspunkt verliert. Da Geisslers zyklische Erzählweise aber nicht nur die Geschehnisse wiedergeben, sondern vor allem die verschiedenen Perspektiven, Personen und Diskurse zusammenführen will, ist dieser Schritt konsequent. Diese Betonung der Perspektivität zieht sich durch sein gesamtes Werk und wird sich in »kamalatta« zu einem nahezu prismatischen Spiel der Perspektiven verdichten.

In der Schlussszene sehen wir wieder Ahlers, dessen Weg der Politisierung wir im Laufe des Romans verfolgen konnten, vor der Frage stehend, ob er sich den Genossen auf dem weiteren Weg in die Illegalität anschließt oder ob er sich doch von ihnen abwendet und Zuflucht im bürgerlichen Burgfrieden sucht. Der Roman bietet keine Antwort, er zeigt nur, dass Ahlers für sich eine Entscheidung gefällt hat: »Er stand auf und ging los.«

Dieses offene Ende erinnert nicht ohne Grund an den bekannten Schluss aus Bertolt Brechts »Der gute Mensch von Sezuan«: »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« Das Ende ist ein Appell, sich die aufgeworfenen Fragen vorzuhalten. Geissler bringt so seine Leser dazu, sich mit dem Gang in die Illegalität auseinanderzusetzen. Er verurteilt mit seinem Roman nicht die Mitglieder der RAF, die diesen Weg wählten, sondern stellt zunächst einmal die Frage, ob es Situationen gibt, ob wir uns Situationen vorstellen können, in denen uns unsere Wege selbst in die Illegalität führen könnten.

»Wird Zeit, dass wir leben«

Drei Jahre später setzt Geissler mit »Wird Zeit, dass wir leben«²(1976) die Handlung von »Das Brot mit der Feile« zunächst nicht fort, sondern begibt sich zurück in die Weimarer Republik und die Entstehung des NS-Staats. Die Geschichte des damaligen Hamburger Polizisten Bruno Meyer bietet ihm die Vorlage für seinen Protagonisten Leo Kantfisch. 1933/34 als Wachmann in einer Haftanstalt eingesetzt, plante Meyer eine Aktion, mit der er politische Gefangene befreien wollte. Für Geissler, der von Meyers Fall in einer Broschüre der VAN (Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes) erfuhr, war »die Vorstellung von einem Schließer, der es lernt aufzuschließen, so beispielhaft« und wichtig, dass er die Geschichte als Ausgangspunkt für sein Buch nahm.

Bei der Arbeit interessierte sich Geissler aber nicht nur für Bruno Meyers Geschichte, sondern auch für die der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und deren Widerstand gegen die Nazis. Zugleich hatte Geissler ein ganz gegenwärtiges Interesse, das eng mit der RAF und ihrem Kampf verbunden war. Er sah in der Vergangenheit die Möglichkeit, die Notwendigkeit von gegenwärtigen Kämpfen zu befragen und somit auch die Möglichkeit der Antizipation von zukünftigen Kämpfen. In dem geschichtlich am weitesten von der RAF entfernten Roman ist dergestalt die Apologie des bewaffneten Kampfs tatsächlich am ehesten zu spüren.

Dabei geht Geissler mit der KPD hart ins Gericht, um aufzuzeigen, dass es sich bei Lenins Kritik am linken Abenteurertum nicht um eine naturgesetzliche Wahrheit handelt, sondern darum, dass Starrheit auch zum Verrat führen kann. Wo die Nazis foltern, morden und die Genossen verhaften, ruft die Partei die Basis zu Zurückhaltung auf. Damit vernachlässigte sie ihren Kampfauftrag und schützte nur noch sich selbst. In Geisslers Roman wird sie damit zum Selbstzweck. Einige Genossen widersetzen sich allerdings und greifen zu den Waffen, um sich gegen die neue faschistische Ordnung zu wehren. Geissler schildert diesen Kampf, der für die Genossen oft mit dem Tod endet, nicht als einen vergeblichen, sondern als einen sinnstiftenden. Im Vergleich zum lebendigen »Seelentod« der Unterdrückung sind die Kommunisten im Widerstand ganz bei sich.

Im letzten Kapitel, das als »Frohes Fest« überschrieben ist, wird dann wieder die Gemeinsamkeit zwischen dem bewaffneten Kampf und der Kommunistischen Partei gesucht, ohne deren Organisation sich der Widerstand nicht erfolgreich anführen lässt. In einer Befreiungsaktion soll ein kommunistischer Kader am Weihnachtsabend aus dem Gefängnis befreit werden, in dem Leo Kantfisch arbeitet. Die Befreiungsaktion, die auf einem als Vorwand arrangierten Krippenspiel aufbaut, wird von Geissler im Glanze eines Heiligenbilds geschildert, eines Heiligenbilds im Namen des Lebens. Denn genau das bedeutet Widerstand gegen die faschistische Obrigkeit für Geissler.

Stilistisch knüpft er dabei an das vorangehende Buch an. Seine Sätze sind trotz ihrer teilweise schroffen, an die Alltagssprache angelehnten Oralität rhythmisch und melodisch durchkomponiert. Geisslers Prosa liebäugelt immer wieder mit dem Lyrischen. So stehlen sich einzelne Verse immer wieder in den Text hinein und versichern dem Leser, sich in einer antifaschistischen Ballade zu befinden.

Damit wehrt sich Geissler auch ganz bewusst gegen die Verrohung der herrschenden Sprache, die von Herbert Marcuse in »Der eindimensionale Mensch«³ diagnostiziert wurde. Dort beschreibt Marcuse deren Stil als einen von »einer überwältigenden Konkretheit«, in der »die Spannung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, Faktum und Faktor, Substanz und Attribut« verloren gehe und durch »(m)agische, autoritäre und rituelle Elemente« in Identifikation aufgelöst werde. Marcuse erkennt darin die Gefahr, dass alle »nonkonformistische Elemente aus der Struktur und Bewegung des Sprechens« verdrängt würden.

Eine Voraussetzung, unter der beispielsweise der Volksmund in Geisslers Literatur einen oppositionellen Charakter entwickeln kann. Doch nicht nur in den Reibungen und Lücken des Volksmundes erkennt die herrschende Sprache ein Problem. Auch die »geschichtliche Dimension entzieht sich ihrer Kontrolle. Eine Tendenz, gegen die sich Geisslers Schreiben explizit wendet: »sie hätten uns gern ohne unsre geschichte. / sie wissen warum. / wir auch.«

Wie auch schon in »Das Brot mit der Feile« spielen in diesem Roman die unterschiedlichen Perspektiven eine wichtige Rolle. In »Wird Zeit, dass wir leben« verweisen sie jedoch auf einen Brennpunkt, auf eine Entscheidung, die auch vom Leser erkannt werden soll. Die politische Dringlichkeit der 1970er Jahre wird in diesem Roman besonders deutlich. Ein Innehalten kann Geissler zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptieren, eine Entscheidung muss getroffen werden: »Entweder oder. Rot oder Weiß.«

»kamalatta«

Geisslers bekanntester Roman mit dem geheimnisvollen Titel »kamalatta«⁴ (1988) wurde nicht zu Unrecht von der Kritik als Kassiber-Roman bezeichnet. Da der Text durch diese Bezeichnung aber zumeist nur diskreditiert werden sollte und kein Interesse bestand, dem Vergleich mit dem »Info«-System der RAF – trotz der frappierenden stilistischen Ähnlichkeiten –wirklich nachzugehen, konnten die Kritiker nicht die Struktur und Funktionsweise des Kassibers als poetisches Moment des romantischen Fragments verstehen, als das Geissler seinen Roman im Untertitel bezeichnet.

Die Geschichte rund um den Protagonisten Proff, dessen Erlebnisse von einem nicht besonders strengen auktorialen Erzähler berichtet werden, und den geplanten Anschlag auf die ehemalige SS-Junkerschule Bad Tölz, in der sich nach 1945 die US-Armee einquartiert hatte, schreckt zunächst durch die fragmentarisch und hermetisch-esoterisch erscheinende Form ab. Dabei ist aber zu bedenken, dass die Fragmentierung nicht Selbstzweck, nicht dekadente Allüre ist, sondern von Geissler aus einer Notwendigkeit heraus genutzt wird. Wie schon an den vorangegangenen Büchern deutlich wurde, vermochte er es nicht mehr, dem Text eine bestimmte Form der Abgeschlossenheit zu geben. Geissler konnte sich auch keinen Leser mehr vorstellen, der den Text im Geiste wie einen Film nachvollzieht. Geissler benötigte einen Leser als Genossen für eine nur gemeinsam zu bewältigende Aufgabe. Eine Aufgabe, die auch auf einem gemeinsamen Austausch beruht.

An diesem Punkt kommt Geisslers Roman der ursprünglichen Bedeutung des Kassibers nahe. Kassiber ist eine rotwelsche Bezeichnung (kassiwe), die aus dem Hebräischen entlehnt wurde (katawa ktiwa) und, so der Philosoph Jakob Taubes, unter anderem mit Brief oder Text übersetzt werden kann. In einem Brief an Carl Schmitt, mit dem er diesen für ein Zeitschriftenprojekt mit dem Titel »KASSIBER« gewinnen wollte, schrieb Taubes, dass das Wort im Rückgriff auf seine Wurzeln im Hebräischen auch mit »Hermeneutik« übersetzt werden könne.⁵

In dieser Übersetzung liegt die Möglichkeit zum eigentlichen Kern, sprich der reflexiven Struktur »kamalattas« vorzudringen. In ihr offenbart sich die von Geissler wohl komponierte Verwobenheit von Form und Inhalt: die Parallele zwischen der Form des romantischen Fragments und dem Stil des »Info«-Systems. Eine Interpretation des Rechtsphilosophen Ino Augsbergs aufgreifend, muss die Aufgabe des Kassibers bzw. der Hermeneutik als eine dreifache verstanden werden. Er unterscheidet die Aufgabe als »Funktion«, als »Mission« und als »Resignation«, die eine jeweils unterschiedliche Bedeutungsebene der Aufgabe herausstellen.⁶

Die Aufgabe als »Funktion« findet sich in »kamalatta« als die reflexive Explikation eines Sinns durch die Leser wieder. Geisslers Text verweist durch seine esoterischen Namen, Abkürzungen und Formulierungen auf Bezüge, die sich aus dem Roman selbst oft nicht erschließen lassen oder sich einer klaren Deutung verweigern und dementsprechend das Wissen oder die Wissbegierde der Leser voraussetzen. Der Text formuliert einen Appell an die Leser, fordert sie zur eigenen Tätigkeit auf. Denn ohne Tätigwerden und ohne eine über den eigentlichen Bestand des Texts hinausgreifende Rezeption bleiben die in den fragmentarischen Text und seiner Erzählweise eingeschriebenen Leerstellen ungefüllt, das Werk bleibt stumm.

Ein weiteres zentrales Motiv insbesondere in »kamalatta« ist die Darlegung der mühsamen Gesprächsversuche zwischen den zerstrittenen Mitgliedern der verschiedenen linken Widerstandsbewegungen. Hieran knüpft die zweite Ebene der Aufgabe an, die Aufgabe als »Mission«, bei der nicht die Mitteilung von Informationen, sondern das Mitteilen selbst im Vordergrund steht. So beschreibt Geissler die Suche nach einer Sprache, die den Menschen angemessen ist oder vielmehr die Suche nach einem Sprechen, durch das der Mensch erst wirklich zu dem Menschen wird, der er theoretisch sein könnte. Gedacht sei hier an Hölderlins Verse aus seiner Hymne »Friedensfeier«: »Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« In ihnen kommt zum Ausdruck, dass der Mensch nur im Gespräch wirklich Mensch ist. Das Gespräch ist daher die Voraussetzung für jede Utopie, in der die Sprache irgendwann zum Gesang wird. Zum Gespräch gehört aber auch, wie Hölderlin herausstellt, das Einanderzuhören. Eine Forderung, die auch Geissler immer wieder erhob.

Damit die hier anklingenden Töne einer Utopie nicht falsch verstanden werden, sei nochmals betont, dass Geissler – bis zuletzt bekennender Kommunist – den Klassenkampf nicht dem stummen Zuhören opfern will, sondern er nur im Zuhören, Fragenstellen und Voneinanderlernen die Bedingungen der Möglichkeit des Klassenkampfes sieht. Ein Gedanke, der in »kamalatta« besonders deutlich hervorscheint. So lässt er beispielsweise in einer entscheidenden Diskussion den schon aus »Das Brot mit der Feile« bekannten Tapp sagen: »jeder von uns (…) hat seine geschichte aus kämpfen, seine entscheidung, jeder von euch hier kann jeden fragen, soll er sogar, wir lernen, jeder von jedem, oder sie fressen uns ab.« Und auch wenn Geissler nicht mit den verschiedenen Perspektiven in seinem Roman verwechselt werden sollte, ist es sehr naheliegend, dass der Autor an dieser Stelle durch seine Figur hindurchschimmert.

Zuletzt sei noch die hermeneutische Aufgabe als »Resignation« erwähnt. Wie schon gezeigt wurde, stellen Geisslers Texte keine einfache Lektüre dar, aus der sich eine Aussage unmittelbar erschließen lässt. Ganz in der Tradition der Frühromantik errichtet Geissler in »kamalatta« vornehmlich durch seine sprachliche Architektur einen Reflexionsraum, in dem die einzelnen Inhalte miteinander in ein Gespräch treten. Was der Leser aus diesen Gesprächen heraushört und mitnimmt, kann dabei ganz unterschiedlicher Art sein. Letztendlich lässt sich keine eindeutige oder letztgültige Interpretation festhalten. Die Irritation des esoterischen Gehalts ist nicht zu beenden, sondern fortzuführen, und ein neues Wissen führt vielleicht zu neuer, bis jetzt noch verborgener Erkenntnis. Geisslers Stärke liegt genau in dieser Logik des Gesprächs und des Streits.

»dissonanzen der klärung«

Zwei Jahre nach dem Erscheinen von »kamalatta« veröffentlichte Geissler mit »dissonanzen der klärung«⁷ (1990) ein direkt »an die genossinnen und genossen der roten armee fraktion« gerichtetes Langgedicht. In einer vorangestellten Einleitung erklärte er, warum er sich ausgerechnet in dieser Form (»welcher aufstand denn, der nicht singt?«) das erste Mal öffentlich an die RAF wandte. Ihm wurde, wie er schreibt, einsichtig, dass er seit 20 Jahren schon Teile dieses Briefes mit sich herumgetragen und »in den jahren der arbeit an kamalatta (…) an diesen brief herangearbeitet« hatte. Da ihn aber keine Antwort aus den Reihen der RAF erreicht habe, weist er darauf hin: »ohne antwort geht keine kommunikation.« Womit Geissler deutlich macht, dass seine Romane nicht als konsumierbare Fiktion, sondern als ein notwendigerweise auf eine Antwort abzielender Akt der kommunikativen Auseinandersetzung zu lesen sind. Denn dort, wo der Leser erkennt, dass er sich selbst in den Text einbringen muss, versteht er auch, dass man sich auch in das alltägliche und insbesondere das politische Leben selbst einbringen muss, um es wirklich zu verstehen.

Seine Literatur verstand Geissler immer als Teil eines Gesprächs, einer Arbeit, eines Kampfes, aus dem in einer nahen oder auch fernen Zukunft vielleicht einmal Gesang werden kann, Gesang werden muss: »ich frage mich, was für eine arbeit, was für ein kampf das werden wird um die befreiung des menschen ohne brecht (und, ja, ohne benn), ohne celan (und ja, ohne céline), ohne pottier (und, ja, ohne pound). wie denn unser freies ganzes gesicht ohne gedicht, ohne unser lied, ohne die freude auf alle die tollen künste des menschen? meine antwort liegt nahe bei entsetzen.«⁸

Anmerkungen

1 Christian Geissler: Das Brot mit der Feile, Berlin: Verbrecher Verlag 2016

2 Christian Geissler: Wird Zeit, dass wir leben, Berlin: Verbrecher Verlag 2013

3 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt/M. 1970

4 Christian Geissler: kamalatta. romantisches fragment, Berlin: Verbrecher Verlag 2018

5 Jacob Taubes: Brief an Carl Schmitt v. 17. November 1977, in: Herbert Kopp-Oberstbrink; u.a.: Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, München 2012

6 Ino Augsberg: Kassiber: die Aufgabe der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2016

7 Christian Geissler: dissonanzen der klärung. an die genossinnen und genossen der roten armee fraktion, Kiel 1990

8 Christian Geissler: winterdeutsch. nachschrift drei, in: ders.: Prozeß im Bruch, Hamburg: Edition Nautilus 1992

Dean Wetzel lebt als freier Autor in Berlin und schreibt schwerpunktmäßig über Philosophie, Literatur und Theater.

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