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Aus: Ausgabe vom 10.11.2023, Seite 4 / Inland
Staat und Antisemitismus

Gesinnungsprüfung am Schultor

Hessens Kultusministerium nimmt Lehrer für Staatsschutz-Aufgaben in die Pflicht
Von Annuschka Eckhardt
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In Hessen dürfen Lehrer nun endlich auch Aufgaben des Staatsschutzes übernehmen. Am Montag versendete das Kultusministerium einen Brief an Schulleiter und Lehrkräfte an den öffentlichen Schulen zum »Umgang mit unangemessenem Verhalten an hessischen Schulen im Kontext des Nahostkonflikts«. Als Anlage eine Liste »relevanter und verbotener Symboliken und Organisationen«.

Die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit gehöre selbstverständlich zu den Prinzipien der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« und sei unter anderem im Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen fest verankert, heißt es in dem Schreiben, das jW vorliegt. Diese Prinzipien hätten aber ihre Grenzen, wenn Gewalt verherrlicht, die Menschenwürde verletzt oder die Gleichwertigkeit von Bevölkerungsgruppen in Frage gestellt werde.

Der Anhang wurde mit dem Hinweis versehen: Das »Zeigen des islamischen Glaubensbekenntnisses« stelle »keine grundsätzliche Strafbarkeit dar« (sic!). Es sei hier keine einzelfallbezogene Prüfung »im Kontext Hamas« erforderlich. In welcher Form Lehrkräfte überhaupt eine Prüfung der Gesinnung ihrer Schüler vornehmen sollen, wird nicht ausgeführt.

»Als Lehrkraft im Ruhestand und GEW-Mitglied bin ich mit einigen meiner GEW-KollegInnen äußerst alarmiert über das Schreiben des hessischen Kultusministeriums, das alle Schulleitungen und Lehrkräfte in Hessen dazu auffordert, vorrangig antisemitische Äußerungen an Schulen zu verfolgen und eventuell auch zu sanktionieren«, sagte die ehemalige Lehrerin Maria Ebobissé am Donnerstag gegenüber jW. Es stelle sich die Frage, warum eine »ministerielle Aufforderung bei antischwarzen Diskriminierungen« sowie »antiziganistischem und antimuslimischem Rassismus« fehle. »Diese Einseitigkeit von Politik, staatlichen Institutionen, Mainstreammedien und die mangelnde Gleichwertigkeit von Betroffenheit wird von vielen migrantischen Jugendlichen als ungerecht empfunden und trägt nicht dazu bei, Antisemitismus zu verhindern«, so Ebobissé.

Das hessische Kultusministerium bestätigte das Versenden des Briefes gegenüber dieser Zeitung. »Ganz allgemein gilt bei uns in Hessen, dass wir jedem Schutz zukommen lassen und zugleich der Wertevermittlung und Demokratieerziehung an unseren Schulen einen hohen Stellenwert beimessen«, so ein Sprecher.

Von den Lehrkräften bekämen die Vorsitzenden der GEW Hessen gespiegelt, dass der Nahostkonflikt von vielen Schülern sehr emotional aufgefasst werde und es auch zu Konflikten auf den Schulhöfen komme. »Was diesen Konflikt von anderen unterscheidet, ist, unter anderem, die Verknüpfung mit der deutschen Geschichte, dem Holocaust. Zudem differieren die persönliche Lebenserfahrung und Betroffenheit von Lehrkräften auf der einen und die von Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite häufig in deutlichem Maße«, so Thilo Hartmann, Vorsitzender der hessischen GEW, am Donnerstag zu jW. Es sei aber nicht die persönliche Meinung einer Lehrkraft, die den Unterricht bestimmen solle. Die Handreichungen des Kultusministeriums wären vor allem geprägt davon, wie der Konflikt einzuschätzen sei. »Den Lehrkräften hilft das deutlich weniger als konkrete und strukturelle Unterstützung, zum Beispiel durch einen Ausbau der Schulsozialarbeit und der schulpsychologischen Angebote, vor allem aber durch das Ermöglichen der Zeit für pädagogische Arbeit«, so Hartmann.

Die allgemeinen Missstände an hessischen Schulen halten das Kultusministerium jedenfalls nicht davon, Schülern und Lehrkräften in sehr spezifischer Weise politische Aufgaben zu erteilen.

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  • Leserbrief von René Osselmann aus Magdeburg (14. November 2023 um 12:33 Uhr)
    Ach, was haben sie nicht gewettert über die DDR, ich sag nur Überwachungsstaat, Spitzelstaat oder Stasistaat und was ist nun? Auch in der BRD wird geschaut, ob alles nach dem Richtigen läuft und in dem Zeitalter der Computertechnik haben sie Möglichkeiten, wovon die Stasi damals nur träumen konnte! Aber ein aktueller Höhepunkt in diesem Staat ist es, wenn Lehrer die »Gesinnungspolizei« spielen sollen mit nützlichen Informationen für den Staatsschutz und das sollte jedem zu denken geben. Es wird die Zeit wieder kommen für Berufsverbote bei Personen, die nicht in das Rädchen des Systems passen! Willkommen im Überwachungsstaat …
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinz-Joachim R. aus Berlin (14. November 2023 um 13:30 Uhr)
      Geneigt, Ihnen recht zugeben bei oberflächlichem Vergleich, Herr Osselmann, finde ich es aber doch unzureichend, so man dabei stehen bleibt. Pardon, es geht hier auch und vor allem um die Klassenfrage. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR arbeitete für die Sicherheit beim Aufbau des Sozialismus. Natürlich gab es dabei Fehler und es konnte auch nicht sein, dass das MfS für ideologische Schwächen in der Partei- und Staatspolitik den Buhmann spielen musste, doch grundsätzlich ging es um die Abwehr des Klassengegners und seiner ihm bewusst oder unbewusst dienenden oppositionellen Kräfte gegen den Sozialismus. Die Dienste des imperialistischen Staates gibt es nicht für soziale Obliegenheiten der BRD-Bürger, sondern für Profitsicherung und -mehrung, Rüstung und Expansion bis zum Kriegsfall. Die Werktätigen der BRD haben zu spuren. Hier geht es um die Sicherung des Ausbeutersystems und nicht um Frieden und Sozialismus.

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