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Aus: Ausgabe vom 03.11.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
Faschismus in der Ukraine

Zur Kontrolle der Gesellschaft

Faschismus als Machtinstrument von Weltkonzernen: Das Referat Oleg Jassinskijs während der Konferenz »Der Bandera-Komplex«
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Dutzende Menschen verbrannt oder erschlagen: Massaker im Gewerkschaftshaus in Odessa am 2. Mai 2014

Am vergangenen Sonntag veranstalteten junge Welt und Melodie & Rhythmus in Berlin die Konferenz »Der Bandera-Komplex«. Das Referat des Journalisten Oleg Jassinskij zum ukrainischen Faschismus dokumentieren wir an dieser Stelle. Weitere Vorträge aus der Veranstaltung sind bereits in deutscher und englischer Sprache auf dem Youtube-­Kanal von junge Welt abrufbar.

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,

zunächst möchte ich mich für die Einladung zur Teilnahme an dieser Konferenz bedanken und meine Hochachtung für das wahre Deutschland zum Ausdruck bringen – für das antifaschistische, antimilitaristische, die NATO ablehnende, humanistische Deutschland. Trotz Zensur, Verboten und Verfolgung, trotz einer in der Geschichte noch nie dagewesenen Manipulation in den Medien und sozialen Netzwerken gibt es in allen Ländern immer noch Menschen, die sich ihren gesunden Menschenverstand, ihre kritische Wahrnehmung der Realität und vor allem ihr persönliches Bedürfnis, für deren Veränderung zu kämpfen, bewahrt haben. Ich danke Ihnen für Ihren Mut und Ihre Menschlichkeit.

Folge eines Prozesses

Und nun zu unseren Themen. Ich denke, dass der Einfluss der ukrainischen Faschisten auf die Welt- und sogar die ukrainische Politik nicht als Ursache, sondern als Folge eines Prozesses gesehen werden sollte. Faschismus ist ein Bewusstseinszustand, der vom System und seinen Medien konstruiert wird. Der Faschismus ist eine sehr ansteckende und schwer zu heilende Krankheit des menschlichen Gehirns, aber für sich genommen ist er nicht in der Lage, zeitlich stabile historische Projekte zu schaffen. Mir scheint, dass das Hauptproblem woanders liegt: in der außerordentlich bequemen Nutzbarkeit des Faschismus als Machtinstrument von Weltkonzernen für den Zweck, die Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. So wie die Faschisten von »Asow« und andere von nazistischer Ideologie durchdrungene Strukturen heute die Kontrolle über die ukrainischen Streitkräfte ausüben, so schaffen neoliberale Regierungen, die im wesentlichen die Manager weltweit agierender Konzerne und des Spekulationskapitals sind, lokale nationale Faschismen, um ihre eigenen globalen Interessen zu schützen. Es ist also nicht der Faschismus, der das ukrainische kolonialpolitische Projekt beeinflusst, sondern das ukrainische koloniale Projekt schafft den Faschismus, um die Gesellschaft zu kontrollieren. Faschismus bedeutet die Zerstörung der Kultur, der Ethik, des Klassenbewusstseins und des kritischen Denkens, d. h., er bedeutet umfassende Verwahrlosung. Ein echter Faschist ist für gewöhnlich nicht in der Lage zu erkennen, dass er ein Faschist ist, weil er absolut nichts von der Geschichte versteht und nicht in der Lage ist, über seine eigene zu reflektieren. Wie zuvor in anderen Ländern ist die Rolle des ukrainischen Faschismus begrenzt und konkret – er lenkt die Bevölkerung von den Hauptverursachern ihrer Probleme ab und macht die Bürger zu Spießbürgern, zu Wächtern der etablierten Ordnung der Dinge, die jederzeit bereit sind, als Kanonenfutter beim Schutz der Interessen der Herrschenden zu dienen. Die heutige neoliberale Macht kann die ihr untergeordneten Länder nicht ohne Faschismus kontrollieren. Ihr sind längst die rationalen Argumente und faszinierenden Verheißungen ausgegangen. Es bleiben nur noch Medienshows, die Industrie des Schreckens und rohe Gewalt. Um den Faschismus zu besiegen, ist es notwendig zu verstehen, wie seine psychologischen und medialen Mechanismen funktionieren. Es ist notwendig zu wissen und zu sehen, wie das System gegen uns arbeitet, warum es sich so effektiv bei der Gehirnwäsche der Menschen auf allen Kontinenten erwies, während linke Kräfte entweder in sich untereinander feindlich gegenüberstehende Sekten oder in Unternehmenssöldner unter linken Slogans und Bannern verwandelt worden sind. Dies ist einer der Gründe, warum der Faschismus in der Ukraine möglich wurde.

Worin besteht nun das konkrete und praktische Problem mit dem Faschismus in der Ukraine?

– Darin, dass er den Machtapparat kontrolliert.

– Darin, dass er die zivilen Machtstrukturen in Angst und Schrecken hält. So scheint es, dass Selenskij sich vor den eigenen »Patrioten« mehr fürchtet als vorm russische Militär.

– Darin, dass die Faschisten unmittelbar mit westlichen Drahtziehern zusammenarbeiten und auf deren direkte Anweisung sie zu jedem beliebigen Moment einen ukrainischen Beamten ausschalten können, indem sie ihn des »Verrats nationaler Interessen« beschuldigen.

Ja, das ist ein großes Anfangsproblem für die Möglichkeit eines Friedensprozesses. Von Beginn des Staatsstreichs 2014 an war klar, dass der am besten organisierte und politisierte Teil der Demonstranten die rechtsextremen Organisationen Rechter Sektor und Swoboda waren. Sie waren zwar zahlenmäßig klein, machten dies aber durch ihre Organisation und ihr klares politisches Projekt wett, während die Linken untereinander um das Recht kämpften, sich als Avantgarde bezeichnen zu können, und sich über Trotzki und Stalin stritten.

Es ist sehr schwierig, über den gegenwärtigen Einfluss des Faschismus und der Bandera-Ideologie auf die ukrainische Bevölkerung zu sprechen, weil es keine seriösen soziologischen Erhebungen gibt, denn diese sind unter den gegenwärtigen Umständen absolut unmöglich. Ich erinnere mich an die letzten Monate vor dem Krieg, als ich in Kiew war, und urteile so auf der Grundlage meiner persönlichen Eindrücke. Ich bin vollkommen überzeugt, dass die große Mehrheit der Ukrainer trotz des großen Einflusses der ukrainischen Medien in den letzten neun Jahren keine faschistischen Ideen teilt. Selbst in Banderas Heimat, der Westukraine, waren seine Anhänger immer eine Minderheit. Sie schüchterten die anderen einfach ein, und viele, die ihre Brutalität und ihren hohen Organisationsgrad kannten, hatten einfach Angst, sich mit ihnen anzulegen.

Die überwältigende Mehrheit der Ukrainer ist heute der elementaren Möglichkeit beraubt, ihre Meinung zu äußern. Menschen riskieren Gefängnisstrafen für einen Satz oder ein »Like« in Social Media. Heute ist es lebensgefährlich, die Selenskij-Regierung zu kritisieren und zum Frieden in der Ukraine aufzurufen. Die überwältigende Mehrheit der Ukrainer, unabhängig von ihren politischen Ansichten und ihrer Haltung gegenüber Russland, will, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Aber alles wird immer noch von einer eigennützigen, wahnsinnigen und aggressiven Minderheit entschieden, die mit Hilfe westlicher Handlanger und lokaler Nazis die Gesellschaft kontrolliert.

Kein Platz für Opposition

In der heutigen Ukraine ist es schon lange sinnlos, von politischer Opposition zu sprechen – ihre Überreste wurden am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus in Odessa vernichtet, als Dutzende von Menschen bei lebendigem Leib verbrannt sind oder erschlagen wurden, während die Behörden völlig untätig blieben. Das politische Feld der heutigen Ukraine ist eine verbrannte Erde, auf der nicht nur kein Platz für Opposition ist, sondern auch keiner für jeden kritischen Gedanken, der die Wurzeln der aktuellen Tragödie berühren würde. Menschen, die der Regierung gefährlich sind, wurden entweder umgebracht oder sitzen im Gefängnis, im Untergrund, im »inneren Exil« oder haben – wenn es ihnen glückte – das Land verlassen. Aber auch außerhalb der Ukraine vermeiden es viele, die Regierung zu kritisieren, um nahe Verwandte, die im Land geblieben sind, nicht in Gefahr zu bringen. Leider wissen sie sehr genau, mit wem sie es zu tun haben. Und ja, es gibt diejenigen, die aufgegeben haben, die sich haben einschüchtern lassen, ich verurteile diese Menschen nicht, auch sie sind Opfer dieser schrecklichen Maschinerie, die von allein niemals stehenbleiben wird. Deshalb ist es so wichtig, dass wir sie alle gemeinsam stoppen.

Das ukrainische Volk selbst ist das erste Opfer des Faschismus, den ich nicht als »ukrainisch« bezeichnen kann, weil der Faschismus kein Heimatland hat. Jeder Faschismus ist immer gleichzeitig antiukrainisch oder antirussisch oder antideutsch.

In diesen Minuten und Sekunden sterben Menschen an Fronten, die es nie hätte geben dürfen. Um die ukrainische Tragödie zu beenden und Europa vor dem gleichen Schicksal zu bewahren, muss das verbrecherische, antiukrainische und unmenschliche Kiewer Regime zerstört werden.

Das ukrainische Volk, das von der NATO okkupiert und vom Marionettenregime Selenskijs in ein brudermörderisches Massaker hineingezogen wurde, braucht Frieden. Dies erfordert die Solidarität aller Völker der Welt und aller antifaschistischen und antiimperialistischen Kräfte Europas. Und dieser Kampf Europas gegen den Faschismus hat gerade erst begonnen. Ich danke Ihnen allen sehr herzlich.

Oleg Jassinskij, geboren in Kiew 1967, ist ein ukrainisch-chilenischer Journalist. Er ist Mitarbeiter unabhängiger lateinamerikanischer Medien wie Pressenza und Desinformémonos. Außerdem forscht er zu indigenen und sozialen Bewegungen in Lateinamerika. Er ist Produzent politischer Dokumentarfilme in Kolumbien, Bolivien, Mexiko und Chile, Autor mehrerer Veröffentlichungen und Übersetzer von Texten von Eduardo Galeano, Luis Sepúlveda, José Saramago, Subcomandante Marcos und anderen ins Russische. Jassinskij arbeitet zudem als Kolumnist für die spanische Ausgabe von Russia Today und als Korrespondent für Telesur in Russland.

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