Erlerntes Mitgefühl
Von Arnold Schölzel
Besorgt fragt sich Zeit-Feuilletonredakteur Peter Neumann: »Haben sie das Mitgefühl verlernt?« Mit »sie« sind laut Unterzeile »Aktivisten und Intellektuelle« gemeint, die »den Wahnsinn des Terrors in ihre Diskurse« lenken und damit »das ungeheuerliche Grauen beschwichtigen«. Was das heißen soll, ist wohl nicht zu beantworten. Da haben demnach Aktivisten und Intellektuelle Mitgefühl, also Anteilnahme, verlernt, was wohl heißt, dass sie es erlernen mussten. Und wie wird Wahnsinn in Diskurse gelenkt, falls jemand weiß, was Diskurse sind? Terror ist des Wahnsinns? Er ist, man mag es nicht wiederholen, ein Instrument von Politik – wie Krieg. Das also wahnsinnig ist?
Da will einer partout nicht sagen, um was es ihm geht. Oder er weiß nicht, um was es ihm geht.
Einmal geraten: Hamas und Israel. Neumann hält Slavoj Žižek und Greta Thunberg vor, der eine habe zwar die Hamas verurteilt, dann aber nicht 20 Minuten über israelisches Leid gesprochen, sondern über die Palästinenser. Die andere habe sich mit einem Plakat »#standwithgaza« hingestellt, und auch sie sei »den Palästinensern näher als den Israelis« gewesen? Nicht mit Neumann reden wollte die Schriftstellerin Adania Shibli, deren Buchvorstellung auf der Messe in Frankfurt am Main einfach abgesagt, pardon: verschoben wurde.
Neumann schlussfolgert aus dem Dreierlei, dass die Welt kopfsteht: »Und die einfachsten Botschaften des Mitgefühls sind nicht möglich oder werden in ihr Gegenteil verkehrt.« Fragt aber dann eher direkt: »Warum fällt es so vielen schwer, Terror, Terror zu nennen?« Wem fällt das schwer? Shibli hat ihm doch nichts gesagt, woher weiß er also, was sie meint? Žižek hat verurteilt.
Neumann weiß nicht nur, was er schreibt, er schreibt offenbar auch gern von was, wovon er nichts weiß. Wenn einem Feuilletonisten hierzulande aber nichts einfällt, dann ist da immer noch die Documenta vom vergangenen Jahr. Das Bürgerfeuilleton hat entschieden: Der globale Süden – alles Antisemiten. Neumann quirlt also auch die Documenta mit Žižek, Thunberg und Shibli ineinander und klagt über den Brei: »Die Reaktion vieler linker Intellektueller macht vielmehr eine generelle Verschiebung sichtbar, bei der man offenbar eine gewisse Lust daran empfindet, dem Globalen Westen beim Untergang zuzusehen.« Flugs ist Neumann auf einmal beim Verallgemeinern auf der Grundlage von vier nicht eindeutigen oder gar keinen Fakten. So verschieben der globale Süden und linke Intellektuelle generell alles. Neumann mahnt die Unbotmäßigen: »So wichtig der postkoloniale Blick auf den Westen und Europa ist, darf er nicht dazu führen, jetzt auch noch den Terror in einem Gespinst aus Kontexten aufzulösen, die erklären sollen, was mit menschlichen Vorstellungen einfach nicht zu begreifen ist.«
Denn wenn der Leser meint, bei Neumann geht nichts mehr, dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Das also wollte er mit »Mitgefühl«, »Wahnsinn« und »Grauen beschwichtigen«, loswerden: Du sollst keine Kontexte herstellen. Zusammenhänge sind einfach das letzte, denn sie sind konkret. Hier aber, bei Israel, Hamas und den zwei Millionen Einwohnern von Gaza, die in Neumanns kolonialem Blick nicht existieren, handele sich um das »absolut Böse«. Da hat doch, so der Zeit-Autor, der Xi dem Putin die Hand geschüttelt. Die beiden und Hamas sind aber laut Neumann »Profiteure einer Welt ohne moralischen Kompass«.
Hätte auch in der Überschrift stehen können. Hätte Neuman auch den Rücktritt des UN-Generalsekretärs fordern sollen. Fragt der doch glatt, warum zwei Millionen Menschen im Bombenhagel ohne Strom, Wasser und Nahrungsmittel leben müssen. Fragen Sie Herrn Neumann, Herr Guterres, den Mann mit dem moralischen Kompass und viel erlerntem Mitgefühl.
Da hat doch, so der Zeit-Autor, der Xi dem Putin die Hand geschüttelt. Die beiden und Hamas sind aber laut Peter Neumann »Profiteure einer Welt ohne moralischen Kompass«.
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