Nahostkonflikt spaltet EU
Von Jörg Kronauer
»Kakophonie« hat das Zeug, in der EU zumindest zum Wort des Monats zu werden. Der Begriff wird seit Wochen verwendet, um die Haltung der Union zu dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober und zu Israels darauf folgendem Krieg im Gazastreifen zu charakterisieren. Und man muss sagen: »Kakophonie« passt wirklich gut.
Es begann schon bei der ersten Videokonferenz der EU-Außenminister nach dem Massaker, die am 10. Oktober abgehalten wurde. Sollte man jede Entwicklungshilfe an die Palästinenser stoppen, wie es Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze für die Bundesrepublik angekündigt hatte und wie es auch Ungarn und Tschechien befürworteten? Die Mehrheit hielt das für völlig kontraproduktiv. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bekräftigte die Verurteilung des Massakers durch die Union sowie Israels Recht, sich selbst zu verteidigen, fügte jedoch hinzu, dies müsse in Übereinstimmung mit dem humanitären Völkerrecht geschehen – und damit hatte er schon den nächsten wunden Punkt berührt. Von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock etwa war ein Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht damals nicht zu hören. Ihre Unterstützung für Israel war erklärtermaßen »bedingungslos«. Zwar sprach sich »eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten«, wie ein Diplomat bestätigte, für aktive Bemühungen aus, zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Borrells Einladung an die Außenminister Israels und der Palästinensischen Nationalbehörde, an der Videokonferenz ihrer EU-Amtskollegen teilzunehmen, wurde jedoch zum diplomatischen Desaster: Israels Außenminister wies das Ansinnen empört zurück.
Krasse Differenzen blieben. Auf der einen Seite befand sich weiterhin etwa Baerbock, von der auch bei ihrem Besuch in Israel am 13. Oktober kein Hinweis auf das humanitäre Völkerrecht zu hören war und die erklärte, »als Mutter« für israelische Mädchen in Hamas-Geiselhaft zu kämpfen, die aber über Mädchen, die im Gazastreifen litten und starben, kein Wort verlor. Auf der anderen Seite stand etwa Spanien, wo die linke Plattform Sumar, die von der aktuellen Arbeitsministerin Yolanda Díaz geführt wird, zur selben Zeit die einseitige und bedingungslose Anerkennung des Staates Palästina zur Voraussetzung für ihre künftige Regierungsbeteiligung erklärte. Wie Berlin äußerten sich österreichische und die niederländische Vertreter. Kritische Positionen dazu, wenn auch längst nicht so deutliche wie in Spanien, gab es aus Belgien und Luxemburg, aus Irland und einigen nordischen Staaten.
Der Streit spaltet dabei nicht nur West-, sondern auch Osteuropa. Unmittelbar vor dem EU-Gipfel, der am Donnerstag begann, ließ sich das an Tschechien und an der Slowakei beobachten. Tschechiens Ministerpräsident Petr Fiala kündigte am Mittwoch bei einem Besuch in Israel an, er werde auf dem Treffen »uneingeschränkte Unterstützung für Israel und sein Recht auf Selbstverteidigung« einfordern. Der neue slowakische Ministerpräsident Robert Fico hingegen wollte zwar »das Recht« anerkennen, »Israels Souveränität zu verteidigen« – bei Bedarf auch mit »harten Maßnahmen«. Er kündigte allerdings an, »Pläne, Gaza dem Erdboden gleichzumachen« nicht zu billigen. Man könne »Tausende tote palästinensische Zivilisten als Kollateralschaden nicht tolerieren«.
Vor der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs transformierte sich der Streit um die Positionierung der EU schließlich in einen Streit um die Frage, ob man die Forderung von UN-Generalsekretär António Guterres nach einer »sofortigen humanitären Waffenruhe« im Gazastreifen unterstützen solle, um die Versorgung der Zivilbevölkerung zu ermöglichen. Die Bundesregierung lehnte dies im Grundsatz ab: Dies könne so verstanden werden, so hieß es, als stellte man Israels Recht auf Selbstverteidigung in Frage. Ähnlich positionierten sich etwa Österreich und Tschechien. Für Guterres› Forderung sprachen sich unter anderem Spanien, Irland und Belgien aus. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte in einen Entwurf für die Abschlusserklärung des EU-Gipfels ein Plädoyer für eine »humanitäre Pause« eingefügt. War aber »Pause«, im Singular, nicht womöglich als – länger anhaltender – Waffenstillstand zu interpretieren? Aus Berlin war zu hören: Wenn überhaupt, dann werde man sich höchstens auf »Pausen« im Plural einlassen, da dies klarmache, es gehe lediglich um eine Unterbrechung der israelischen Angriffe. Baerbock erfand den Begriff »humanitäre Fenster«. Und die Angriffe, das hatte Baerbock bereits am Montag beim Treffen der EU-Außenminister betont, müssen aus ihrer Sicht weitergehen.
Über all der Rabulistik und der europäischen »Kakophonie« schwebt dabei eines: Die auch in der EU um sich greifende Erkenntnis, dass die übergroße Mehrheit im globalen Süden mit wachsendem Entsetzen auf die doppelten Standards im Westen blickt. Die Welt zum Kampf gegen Russland auffordern, wenn es ukrainische Infrastruktur bombardiert, aber zustimmend nicken, wenn Israel den Gazastreifen in Schutt und Asche legt und zudem die Bevölkerung von Energie, Nahrung und Wasser abschneidet: So verliere man jegliche »Glaubwürdigkeit«, zitierte die Financial Times kürzlich einen hochrangigen G7-Diplomaten. Warum solle der globale Süden »jemals glauben, was wir über Menschenrechte sagen?« fragte der Diplomat: »Sie werden uns nie wieder zuhören.« Er dürfte richtig liegen.
Hintergrund: Die Position Frankreichs
Inmitten der europäischen Kakophonie in den Äußerungen zum Krieg im Nahen Osten hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Dienstag bei einem Besuch in Israel versucht, mit einer eigenständigen französischen Position in die Offensive zu gelangen. Gedanklicher Ausgangspunkt war Frankreichs »Solidarität« mit Israel, die Macron im Gespräch mit seinem Amtskollegen Isaac Herzog erklärte: So, wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Januar 2015 nach den Terroranschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo nach Paris gereist sei, so begebe er sich nun nach Tel Aviv. Dann schlug Macron vor, im Kampf gegen die Hamas die 2014 gegründete Anti-IS-Koalition zu nutzen. Diese operiert bis heute, die Bundeswehr beteiligt sich etwa mit Luftbetankung und Luftraumüberwachung an ihr. Möglich, dass der Vorstoß vor allem eine Blendgranate war: Dass Israel sich von einer fremden Militärkoalition in die eigene Kriegführung hineinreden lassen würde, ist doch eher unwahrscheinlich. Dennoch: Frankreichs Anspruch, im Krieg zwischen Israel und der Hamas mitzumischen, ist nun bekannt.
Die weiteren Schritte: Macron sprach sich in Israel für eine »humanitäre Pause« aus, um die Zivilbevölkerung zu versorgen. Aus seiner Entourage hieß es, die »Pause« könne langfristig in einen Waffenstillstand münden, wünschenswert sei das jedenfalls. Davon abgesehen drang Macron auf eine konsequente Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Nach seinen Gesprächen in Tel Aviv reiste er direkt weiter nach Ramallah, wo er mit dem Präsidenten der Palästinensischen Nationalbehörde, Mahmud Abbas, ebenfalls zu einem Austausch zusammentraf. Die Sicherheit Israels, erklärte er, könne auf Dauer nicht ohne eine politische Perspektive für die Palästinenser gewährleistet werden, und das heiße: Man benötige einen palästinensischen Staat, also eine Realisierung der Zweistaatenlösung. Dazu müsse nicht zuletzt auch das Thema der Siedleraktivitäten im Westjordanland auf den Tisch. (jk)
Immer noch kein Abo?
Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.
Ähnliche:
- Fotostand/Reuhl/imago25.10.2023
100 Aktive diskutieren Antikriegsprofil
- Christoph Soeder/dpa20.10.2023
Schwüre und Eigenlob im Plenum
- 20.05.2020
Protest gegen Annexionspläne
Regio:
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Brüssel im Abseits. Petition gegen von der Leyens Alleingang
vom 27.10.2023