Gaza schlägt zurück
Von Nick Brauns
Palästinensische Kampfverbände aus dem Gazastreifen haben am Samstag morgen einen Überraschungsangriff auf israelische Truppen und grenznahe zionistische Siedlungen begonnen. »Bürger Israels, wir sind im Krieg«, verkündete Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aus dem Militärhauptquartier dem geschockten Land, das in Kriegsbereitschaft versetzt wurde. Kampfflugzeuge bombardierten Ziele in Gaza, während Gefechte im Grenzgebiet und in grenznahen israelischen Orten um die Mittagsstunden andauerten.
Die in der jüngeren Geschichte des palästinensischen Widerstands beispiellose Offensive auf israelisches Gebiet begann um 6.30 Uhr früh mit dem Abschuss Tausender Raketen aus Gaza auf Israel, die allerdings überwiegend durch das Flugabwehrsystem »Eisenkuppel« zerstört wurden. Dabei wurden nach israelischen Angaben eine Frau getötet und 15 Personen verletzt. Gleichzeitig mit dem Raketenbeschuss stießen palästinensische Bodentruppen mit Geländefahrzeugen durch die von Bulldozern niedergerissenen Grenzsperranlagen nach Israel vor. Die Kämpfer setzten auch Gleitflieger und Drohnen ein, um israelische Militärposten und Orte aus der Luft anzugreifen. Dutzende zionistische Siedlungen wurden so attackiert und teilweise eingenommen. Eine noch unbekannte Zahl israelischer Soldaten und Zivilisten wurden bei den Kämpfen getötet oder von den palästinensischen Kämpfern gefangen genommen. Der Korrespondent des britischen Guardian in Jerusalem, Bethan McKernan, meldete unter Berufung auf unbestätigte Berichte palästinensischer Organiationen auf X, dass 57 Israelis tot oder lebendig nach Gaza verschleppt worden seien. Auf Fotos, die über X verbreitet wurden, ist so offenbar die Gefangennahme der Besatzung eines zuvor zerstörten israelischen »Merkava«-Kampfpanzers durch die Märtyrer-Izz-al-Din-al-Qassam-Brigaden zu sehen, den bewaffneten Arm der in Gaza herrschenden islamistischen Hamas. Unter den Geiseln, die die Hamas-Kämpfer unter anderem in der Stadt Ofakim nahmen, befinden sich auch Frauen, Kinder und Senioren, wie von Journalisten vor Ort dokumentierten.
Der Militärchef der Hamas, Mohammed Deif, sprach in einer Botschaft am Samstag morgen von einer Militäroperation »Al-Aksa-Flut«, um den »israelischen Verbrechen« ein Ende zu setzen. »Wir haben beschlossen zu sagen: Genug ist genug«, so Deif, der alle Palästinenser dazu aufrief, zu den Waffen zu greifen. Auch kleinere links- oder säkular orientierte palästinensische Widerstandsgruppen wie die marxistisch-leninistische Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) sind mit ihren Guerillakämpfern an der Offensive beteiligt. »Es ist Zeit für alle Palästinenser, sich wie Phönix aus der Asche zu erheben«, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der PFLP und des auf der besetzten Westbank aktiven Zusammenschlusses »Höhle des Löwen«, die zur »Generalmobilmachung« und »unverzüglichen Angriffen von allen Seiten auf die Besatzungskräfte und ihre Siedler« aufriefen. Lediglich die größte, innerhalb der palästinensischen Autonomiebehörde weiterhin dominante palästinensische Formation Fatah nimmt offenbar nicht an der Operation teil. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas erklärte am Samstag vormittag, das palästinensische Volk brauche Schutz und habe das Recht auf Selbstverteidigung gegen den »Terror« von Siedlern und Besatzungskräften.
In mehreren Städten der besetzten Westbank kam es zu Demonstrationen zur Unterstützung der Offensive aus Gaza, im Ort Dschabal Al-Mukaber bei Jerusalem setzten Jugendliche nach Angaben palästinensischer Journalisten eine Polizeistation in Brand. »Was gerade im besetzen Palästina geschieht, ist eine Antwort auf Wochen, Monate und Jahre alltäglicher israelischer Militäreinmärsche in palästinensische Städte, das Töten von Palästinensern, und die Tatsache, dass Millionen von Palästinenser im Gazastreifen unter einer israelischen Blockade gehalten werden«, ordnete der Autor Mohammed El-Kurd, einer der bekanntesten palästinensischen Aktivisten aus Ostjerusalem, auf dem Kurznachrichtendienst X die Ereignisse ein. Israel habe seit 15 Jahren »unaussprechliche Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und illegale Kollektivstrafen« an den Palästinensern in Gaza begangen, schrieb die palästinensische Feministin und Kommentatorin des Nachrichtennetzwerkes Al-Shabaka, Marwa Fatafta, auf dem Kurznachrichtendienst. »Jeder Kommentar und jede Analyse, die diese Fakten heute nicht mit einbezieht, ist hohl, unmoralisch und entmenschlichend.«
Israel hat seit 2007 eine Blockade über Gaza verhängt und die dichtbesiedelte Region seitdem mehrfach mit Luftangriffen überzogen, bei denen auch zivile Infrastruktur, Wohnhäuser und Medienzentren zerstört wurden. Während die ultrarechte Regierung von Netanjahu keinen Hehl aus ihrer Absicht macht, sich die besetzten palästinensischen Gebiete vollständig zu unterwerfen und einzuverleiben und den illegalen Siedlungsbau kräftig vorantreibt, wurden seit Jahresbeginn bereits mehr als 200 Palästinenser bei israelischen Militär- und Polizeieinsätzen getötet.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sowie weitere westliche Politiker verurteilten einhellig die Angriffe auf Israel, sicherten dem zionistischen Staat ihre Solidarität zu und betonten das israelische Recht auf Selbstverteidigung. Demgegenüber begrüßte der Iran den palästinensischen Widerstand. Die schiitische libanesische Hisbollah sprach von einer »entschlossenen Antwort auf Israels anhaltende Besatzung und einer Botschaft an diejenigen, die eine Normalisierung mit Israel anstreben«. Der russische Vizeaußenminister Michail Bogdanow rief laut der Nachrichtenagentur Interfax »zur Zurückhaltung auf«, sein Land stehe wegen der jüngsten Eskalation mit Israel, den Palästinensern und arabischen Ländern in Kontakt.
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