Neuer Krieg in Nahost
Von Knut Mellenthin
Nach bisher beispiellosen militärischen Aktionen der Hamas auf israelischem Gebiet hat Benjamin Netanjahu die Bevölkerung des Gaza-Gebiets aufgefordert, ihre Heimat zu verlassen. Israel plane eine umfassende »Rache«, zu der nicht nur die »Vernichtung« der Hamas, sondern auch die vollständige Zerstörung aller größeren Wohngebiete im Gazastreifen gehören werde. Dieser Krieg werde Zeit erfordern und hart sein, sagte Netanjahu am Samstagabend in einer Fernsehansprache. Sehr schwere Tage stünden bevor. Aber er könne dafür garantieren, dass Israel schließlich siegen werde.
Wohin die 2,4 Millionen Bewohner des Gebiets, das zu den am dichtesten bewohnten der Welt gehört, fliehen sollen, und ob Israel ihre Rückkehr später gewaltsam verhindern will, ließ Netanjahu offen. Er sprach auch nicht über die Wahrscheinlichkeit, dass Israel im Verlauf dieses erst ganz am Anfang stehenden Krieges auch die seit 1967 besetzte Westbank entvölkern könnte. Dort leben gegenwärtig neben fast 500.000 jüdischen Siedlern, deren Verbleib gesichert ist, auch 2,5 Millionen Palästinenser.
Die islamisch-fundamentalistische Hamas regiert den Gazastreifen seit Juni 2007, nachdem sie im Januar 2006 bei Wahlen in den besetzten Gebieten eine absolute Mehrheit erreicht hatte. Seither haben zwischen Israel und der Bevölkerung des Gebiets, das kaum halb so groß ist wie der Stadtstaat Hamburg, mehrere vergleichsweise kurze Kriege stattgefunden.
Am frühen Sonnabend hatten die militärischen Einheiten der Hamas zahlreiche Kibbuzim und kleine Ortschaften im Grenzgebiet angegriffen. Auch ein israelischer Militärstützpunkt wurde vorübergehend überrannt. Hunderte von Israelis, mehrheitlich vermutlich Zivilisten, aber auch eine nicht geringe Zahl von Soldaten wurden in den Gazastreifen abtransportiert. Gleichzeitig schoss die Hamas schon am ersten Tag nach eigenen Angaben 5.000 Raketen ab. Israelische Verlautbarungen setzten die Zahl etwas geringer an.
Am Sonntag nachmittag gaben israelische Regierungsstellen die Zahl der getöteten Staatsbürger mit mehr als 500 an. Mehr als 2.000 Israelis befanden sich zu dieser Zeit in Krankenhausbehandlung, von denen 330 als schwerverletzt bezeichnet wurden. Während israelische und westliche Medien die Offensive der Hamas als einen Krieg gegen Zivilisten darstellen, wurden tatsächlich auch »Dutzende« israelische Soldaten während der Kämpfe getötet und eine noch größere Zahl verletzt, etliche von ihnen gefangengenommen.
Kurz nach Beginn der Kriegshandlungen begann die israelische Luftwaffe mit Angriffen auf angebliche »Hamas-Ziele« im Gazastreifen, bei denen unter anderem komplette Hochhäuser zum Einsturz gebracht wurden. Palästinensische Stellen meldeten bereits am frühen Sonntag vormittag 313 Tote und mehr als 2.000 Verletzte.
Vertreter von Netanjahus Likud und der Oppositionsparteien verhandelten am Sonntag intensiv über die Bildung einer Notstandsregierung. Grundsätzlich erklärten sich beide Seiten dazu bereit. Vor dem Hintergrund der scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen um die geplante »Justizreform«» legt die Opposition aber Wert darauf, dass der Aufgabenbereich einer solchen Regierung auf die Kriegführung und damit verbundene »Sicherheitsthemen« beschränkt bleiben müsse. Die derzeit stärkste Oppositionspartei, die liberale Jesch Atid, fordert darüber hinaus den Ausschluss der extrem Rechten aus der Regierung.
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Hoffnung auf Aussöhnung
Es gibt nur eine gemeinsame und gleichberechtigte Zukunft für Palästinenser und Israelis. Allerdings würden die feudalreligiösen Familienclans und fürstlichen Herrscher, ihre Potentaten und Eliten, niemals freiwillig auf einen größeren Anteil ihres gewaltigen Raubvermögens verzichten; ebenso wenig, wie sie auch nicht dazu bereit wären, Flüchtlinge und Migranten aus den Ländern und Armutsregionen der islamischen Welt aufzunehmen. Es ist wohl kaum zu erwarten, dass die feudal-religiösen und sozialpolitischen Glaubensgemeinschaften, wie die Hamas und Hisbollah, einen sozialpolitischen Befreiungskampf gegen ihre Milliarden schweren Finanziers richten werden; nicht gegen die Oligarchen der Golfmonarchien und ebenso wenig gegen die Milliarden schweren feudal-religiösen Familienclans der Mullahs im Iran. Beides wäre aber eine wesentliche Voraussetzung für die Überwindung des feudal-religiösen Aberglaubens und für die einzige zukünftige Alternative: eines gemeinsamen und gleichberechtigten, einheitlichen palästinensisch-israelischen Staates im Nahen Osten.