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Aus: Ausgabe vom 04.10.2023, Seite 11 / Feuilleton
»Grüne Grenze«

Flecken auf der Uniform

Die polnische Regierung, der Film »Grüne Grenze« und die ewige Frage, wie die Weste sauber bleibt
Von Reinhard Lauterbach
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Für den Kulturminister eine notwendige Grausamkeit: Flüchtlingselend an der polnischen Ostgrenze (Filmszene aus »Grüne Grenze«)

»Nur Schweine sitzen im Kino« – diesen Spruch aus der Okkupationszeit bemühte Polens Staatspräsident Andrzej Duda vor zwei Wochen in einem TV-Interview, um auch etwas zur Debatte um den jüngsten Spielfilm der liberalen Regisseurin Agnieszka Holland beizutragen. Nein, er kenne den Film »Grüne Grenze« (Zielona granica, 2023) nicht und werde ihn sich auch nicht ansehen, aber er verstehe jeden Grenzern, dem da dieser Spruch einfalle, unterstrich der Staatschef die Kompetenz seines Urteils. Justizminister Zbigniew Ziobro verglich die Regisseurin mit Nazipropagandisten, die auch Polen als »Untermenschen« und verdorbene Charaktere dargestellt hätten. Heute habe »Berlin« dafür Agnieszka Holland, so Ziobro – eine besondere Infamie angesichts der Tatsache, dass die Regisseurin jüdische Wurzeln hat. Und obwohl ihr Vater Henryk Holland, der als jüdischer Kommunist für die Rote Armee kämpfte, von der polnischen Staatssicherheit Repression erfuhr und 1961 in den Freitod getrieben wurde, wies die Regierungsseite auf die »jüdisch-bolschewistische Sippe« Agnieszka Hollands hin, was angesichts von Hollands geschichtspolitisch ganz unverdächtigem »Holodomor«-Film »Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins« (Obywatel Jones, 2019) besonders absurd anmutet. Ein bewusster Griff in die unterste Schublade antisemitischer und faschistischer Propaganda. Statements dieser Art gibt es zu viele, als dass man noch von Ausrutschern sprechen könnte. Es handelt sich um eine Kampagne.

Denn »Grüne Grenze«, der am 5. September bei den Filmfestspielen von Venedig Premiere feierte und seit dem 22. September in den polnischen Kinos zu sehen ist, zielt auf das zentrale Element der Wahlkampfpropaganda der rechtskonservativen Regierungspartei PiS: die »Sicherheit« Polens und seiner Bürger und vor allem Bürgerinnen. Indem er zeigt, welchen Preis diese »Sicherheit« hat – etwa ein ertrinkendes syrisches Kind im Sumpf an der Grenze zu Belarus. Er zeigt unmenschliche Pushbacks, hilflose Helfer und einen Grenzbeamten, dessen Gewissen sich regt. Der Film ist fiktiv, das betont die Regisseurin ausdrücklich, aber er ist zweifellos »nach realen Motiven« entstanden.

Angesichts der Figur des Grenzers, der Zweifel an seiner Aufgabe bekommt, ist klar, dass die Behauptung der Regierung, hier werde »die polnische Uniform verunglimpft«, danebengeht. Beamte, die sich ihr Gewissen nicht nehmen lassen, kann eine Staatsmacht, die gerade mit Händen und Füßen um den Machterhalt kämpft, natürlich nicht gebrauchen. Es ist paradoxerweise gerade die in der Figur enthaltene Ehrenrettung der »polnischen Uniform«, die die Regierung zur Weißglut treibt.

Am interessantesten ist dabei ein Statement des polnischen Kulturministers Piotr Gliński. Der – im Zivilberuf Professor der Soziologie – räumte auf X (ehemals Twitter) ein, dass die polnische Migrationspolitik »herzlos« erscheinen könne, um anschließend Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik um eine dritte Kategorie zu ergänzen: die Totaltautologie der »Moralethik«, von welcher sich die polnische Regierung leiten lasse. Und in deren Sinne die Grausamkeiten an der Grenze eben sein müssten, um Polen »Sicherheit« zu verschaffen.

Wie oft, wenn in Polen die Staatsmacht versucht, in die Sphäre der Kunst einzugreifen, ist der unmittelbare Effekt eher das Gegenteil des Beabsichtigten. In der Startwoche haben über 200.000 Kinogänger Hollands Film gesehen. Justizminister Ziobro regte an, die Vorstellungen mit einem »richtigstellenden« Regierungsspot einzuleiten, den jedes Kino, in dem die »Grüne Grenze« zu sehen ist, obligatorisch vor dem Film zeigen soll. Doch gibt es keine gesetzliche Verpflichtung dazu, zwei große polnische Kinoketten haben bereits angekündigt, die Anordnung der Regierung zu ignorieren. Ebenso viele Betreiber kleiner Programmkinos.

Da bleibt nur noch die Drohung mit dem Entzug der Lebensgrundlage für die Beteiligten. Dariusz Matecki, ein für seine Hasskommentare im Netz berüchtigter Aktivist der Ziobro-Partei »Souveränes Polen« aus Szczecin, der jetzt auch fürs Parlament Sejm kandidiert, forderte, die an dem Film beteiligten Schauspieler mit lebenslangem Boykott zu bestrafen, so wie es nach 1945 mehreren polnischen Schauspielern ergangen ist, die sich für Nazipropagandastreifen zur Verfügung gestellt hatten. An das Schicksal eines der von Matecki namentlich Genannten, der schon während des Kriegs von der Widerstandsbewegung »Armia krajowa« (Polnische Heimatarmee) exekutiert worden war, wollte er anschließend so explizit da doch nicht erinnert haben.

Mitten in die aufgeregte Debatte platzte eine Nachricht aus Rom. Nachdem »Grüne Grenze« bereits in Venedig den Sonderpreis der Jury erhalten hatte, zog der Vatikan nach und teilte vorige Woche mit, der Film werde mit einem Preis seines »Tertio Millennio Film Fest« ausgezeichnet, da er »die Gewissen der Zuschauer aufwühle«, wie die Juroren die Absicht Agnieszka Hollands treffend beschrieben. Da das Festival seinerzeit von keinem Geringeren als dem polnischen Papst Johannes Paul II. begründet worden war, ist die Ehrung als mehr oder minder offene Distanzierung des Vatikans unter Papst Franziskus von den Berufskatholiken der polnischen Regierungspartei zu deuten.

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