»Niemand wird die Armenier schützen«
Interview: Marc Bebenroth
Nach dem Angriff auf das armenische Bergkarabach sind laut UN-Angaben mittlerweile mehr als 100.000 Menschen nach Armenien geflohen. In einem Aufruf zur Demonstration am vergangenen Freitag in Berlin war die Rede von einer »genozidalen Aggression«. Weshalb?
Aserbaidschan beabsichtigt die Vernichtung der Armenier. Das Aushungern von Menschen, wie durch die Blockade Arzachs seit Dezember 2022, gilt nach internationalem Recht als genozidale Methode. Im Februar 2023 rief der Internationale Strafgerichtshof nach einer Entscheidung Aserbaidschan auf, die völkerrechtswidrige Blockade sofort zu beenden. Doch das hat Aserbaidschan ignoriert und immer wieder auch die Grenzen Armeniens angegriffen.
Die Demo von Freitag steht in einer Reihe mit sehr vielen, die in den letzten Jahren regelmäßig organisiert wurden. Es gibt das antifaschistische Ararat-Kollektiv, aber auch »Theophanu«, die regelmäßig vor dem Brandenburger Tor stehen. In der Berichterstattung müssten viel mehr armenische Stimmen vorkommen, ohne ihnen vorzuwerfen, nur als »Betroffene« zu sprechen. Sie sind sehr wohl in der Lage, objektiv gültige Argumente zu liefern.
Für Sie ist es also keine bloße Fluchtbewegung, sondern Vertreibung?
Auf jeden Fall. Flucht ist hier der falsche Begriff, er verschleiert nämlich den Ursprung des Konfliktes. Was wir durch die vertriebenen, genauer: deportierten Menschen wissen, ist, dass aserbaidschanische Streitkräfte mit Bussen und Pkw in die Ortschaften gegangen sind und die Menschen aus ihren Häusern vertrieben und zum Gehen aufgerufen haben. Dabei wurden viele Menschen auch getötet. Wie viele, dazu gibt es keine gesicherten Zahlen. Es gibt Berichte darüber, dass Zivilisten brutal zerstückelt worden seien, auch Kinder sollen getötet oder vor den Augen ihrer Eltern entführt worden sein. Uns liegen viele Direktnachrichten von den Menschen aus Arzach vor, aus denen wir das wissen. Was dort insgesamt passiert ist, weiß noch niemand.
Sie kritisieren die Bundesregierung, insbesondere Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen, dafür, kaum mehr als Worte übrigzuhaben. Was erwarten Sie von der BRD, die sich von Gaslieferungen aus Aserbaidschan abhängig gemacht hat?
Vor allem das Außenministerium hat konkrete Fragen zum Krieg und zu den Angriffen Aserbaidschans in Pressekonferenzen nie direkt beantwortet und wenn, dann sehr verschwommen und relativierend. Und das, obwohl die Angriffe nachweisbar sind. Baerbocks Äußerungen vergangene Woche kamen zu spät. Während der UN-Generalversammlung 2022 hatte sie bereits die Gelegenheit, halbwegs klare Worte zu sprechen. Sie war aufgefordert, sich zu Aufnahmen zu äußern, die offenbar Kriegsverbrechen Aserbaidschans dokumentieren. Dazu schwieg Baerbock. Doch zu den zeitgleich stattfindenden Demonstrationen im Iran stellte sie sich vor die Mikrofone. Wir fordern konkrete Handlungen. Mit Aufrufen und schönen Reden bei der UNO hilft man den Menschen nicht, die in Arzach aus ihren Häusern deportiert wurden. Wir fordern die Sanktionierung Aserbaidschans und Alijews.
In Ihrem Demoaufruf forderten Sie auch »einen Schutz der souveränen Republik Armenien, insbesondere der Region Sjunik«. Wer soll diesen Schutz gewährleisten?
Ankara und Baku wollen das souveräne Staatsgebiet Armeniens nicht akzeptieren. Es gibt das internationale Völkerrecht. Das ist relativ deutlich formuliert, es muss nur angewendet werden. Das Problem ist, dass das nicht geschieht. Und es stimmt: Niemand wird die Armenier schützen. Deshalb muss sich Armenien selbst beschützen. Die Regierung von Nikol Paschinjan ist jedoch nicht dazu in der Lage.
Schaut die BRD weg, weil Armenien – anders als der NATO-Partner Türkei und der Gaslieferant Aserbaidschan – zu unbedeutend ist?
Wenn es um wirtschaftliche Interessen geht, spielt Armenien keine Rolle. Es ist von seinen Ressourcen abgeschnitten: Was die Türkei exportiert, hat mal Armeniern gehört und das, was Aserbaidschan exportiert, nämlich das Öl, hat auch Armeniern gehört. Aber uns geht es vor allem auch um Armeniens kulturelles Erbe, das 5.000 Jahre zurückreicht. Unsere Geschichte, unsere Art zu leben sollen ausgelöscht werden – und die Welt sieht dabei zu.
Ani Menua ist freie Autorin in Berlin. Gemeinsam mit dem Ararat-Kollektiv setzt sie sich für die Wahrnehmung armenischer Sichtweisen auf den Konflikt in Bergkarabach ein
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