Das durchweg Abscheuliche

Romantik ist die Stimmung der gegenbonapartistischen Fronde, einer zugleich konservativen und ultralinken Negativkoalition gegen Napoleon. (…) Das Wort Stimmung schließt die Möglichkeit aus, die Romantik könne eine Kunstrichtung oder eine Theorie gewesen sein. Eine Fronde, ein Bündnis zweier Unvereinbaren, kann nichts philosophisch Belangvolles zustande bringen. (…)
Eine Negativkoalition, da sie einmal nicht siegen kann, kann nur eines, ein Gemeinwesen in den Abgrund reißen. Der Erfolg, den zu haben sie berufen ist, ist das Verderben. Die Frage: Was streben Sie an? beantwortet ein derartiger Zusammenschluss nie, nur die Frage: Was lehnen Sie ab? Zu einer Frondestimmung gehört zunächst und wesentlich die Lust am Zerstören.
Zum Denken einer Fronde gehört das Willkürliche und Beliebige, zur Ästhetik einer Fronde das Formzertrümmernde. Das Durchführbare an einer Politik ist für die Verhinderer von der Fronde das Verwerfliche. Ihr Missverhältnis zum gesellschaftlichen Gesamt verbietet der Fronde jede Objektivität und jeden Realismus außer einem Realismus der Intrige und der Tücke.
Das ist, wofür wir die Romantik fürchten. Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen. (…)
Von 1795 bis 1815 hauste die eigentliche Romantik.
Die folgenden Jahrzehnte des Biedermeier, dank der Karlsbader Beschlüsse und dank Hegel, verliefen vergleichsweise beschaulich. (…)
Die Großnarren in Deutschland waren Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Beide, Wagner ganz Anarchie und ganz Edda, Nietzsche ganz Freigeist und ganz Totschläger, verkörpern schon sichtbar die Einheit des Widerspruchs zwischen Bakuninisten und Alldeutschen, denn sie fochten gegen Bismarck. (…)
So führte die schiefe Bahn ohne Aufenthalt in die Romantiken der sogenannten Moderne, die sich gegen die Diktatur des Proletariats niederließen und auf Dauer einrichteten.
Das Kennwort, das den Inhalt des Antistalinismus bezeichnet, trotzkistisch-menschewistisch, bezeichnet sehr schön das unstimmige Wesen dieser Fronde. Trotzki vergaß alle inhaltlichen Zwecke, die er jemals gehabt haben mag. Er war bereit, sich mit jedem Halunken zu verbünden, der sich zum Ziel der Freiheit bekannte. Trotzkis Politik ist die Summe aller rechten und linken Abweichungen von Lenins Linie. Man kann, so lehrte damals die Erfahrung, gleichzeitig rechts und links vom Pferd fallen.
Der Romantik, nachdem unlängst der Imperialismus den Sozialismus besiegt hat, blieb als letzte Aufgabe, dessen Wiedererstarken vorzubeugen. Das Wiedererstarken des Sozialismus ist jederzeit möglich, aber da es im Augenblick nicht wahrscheinlich ist, wird die gesamte Romantik beklagenswert dürftig entlohnt.
Die Vertreter der Romantik sind in einer dummen Lage. Keiner widerspricht ihnen mehr, und keiner zahlt ihnen noch einen Groschen. (…)
Wir haben die Jahreszahl der Verschwörung und die Namen der Verschwörer anzugeben vermocht, welche in der DDR den Rückgriff auf die Schlegelsche Richtung bewirkten, die sie als Grundstein einer ästhetischen Theorie einer gegensozialistischen Fronde zu nutzen verstanden. Alle Romantiken enthalten Versatzstücke aus den Romantiken vor ihnen. Alle Romantiker bedienen sich der Vorläufer, die sie finden. Tieck bediente sich Beaumonts und Fletchers, Nietzsche Schlegels, Heiner Müller Lautréamonts. In dem Sinn, aber nur in dem Sinn, gibt es eine romantische Tradition und überlappen sich die Dekadenzen aller Zeiten. Die Romantik fließt nicht, wie ein natürlicher Fluss fließt, aber man kann ihr Wasser mit Rädern zum Fließen bringen. (…)
»Man kann nur etwas aussprechen, was der Bequemlichkeit schmeichelt« (Goethe zu Eckermann, 22. März 1831), »um eines großen Anhanges in der mittelmäßigen Menge gewiss zu sein.«
Beuys, Warhol, Beckett.
Die Romantik im gegenwärtigen Weltaugenblick, das sind ganz alte Kamellen und abgetane Sachen, durch und durch 20. Jahrhundert. Aber Ungenießbarkeit spricht nicht mehr gegen ein Kunstwerk. Die biologische Überzahl der Unfähigen unter den Künstlern und den Kunstfreunden rät uns, nicht mit einem baldigen Verschwinden der Romantik zu rechnen. (…)
Vielleicht am gerechtesten wird der romantischen Seele Hegel. »Die Franzosen«, schreibt er im »Hamann«, »haben einen kurzen Ausdruck für einen Menschen von dieser Widerwärtigkeit des Gemüts, welche wohl Bösartigkeit zu nennen ist; sie nennen einen solchen un Homme mal élévé.«
Auch einer, dem nicht recht liegt, sich gegen das durchweg Abscheuliche übermäßig zu ereifern, wird zugestehen, dass es jedenfalls eine Form von schlechten Manieren ist.
Peter Hacks: Zur Romantik. Konkret Literatur-Verlag 2001. Hier zitiert nach: Peter Hacks: Werke, Fünfzehnter Band. Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2003, Seiten 92-107
Wir danken dem Eulenspiegel-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck
Immer noch kein Abo?
Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.
Mehr aus: Wochenendbeilage
-
Nudeln mit Cashew-Champignon-Sauce
vom 30.09.2023 -
Kreuzworträtsel
vom 30.09.2023 -
»Für mich ist Realismus, wenn ein Stoff auf eine Situation reagiert«
vom 30.09.2023 -
Letzter Rückhalt
vom 30.09.2023 -
Chinatown in Prato
vom 30.09.2023 -
Die Zollsiedlung
vom 30.09.2023