Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 30.09.2023, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Politisches Theater

»Für mich ist Realismus, wenn ein Stoff auf eine Situation reagiert«

Über Lenin, Antigone, die brasilianische Linke, den Realismusbegriff und die anhaltende Wirkung von Kulturprojekten. Ein Gespräch mit Milo Rau
Interview: Sabine Fuchs
Aufführung von »Orest in Mossul«
Milo Rau

Sie gelten seit Jahren als der vielleicht politischste Regisseur im deutschsprachigen Raum und haben das immer wieder, sowohl in ihren Inszenierungen als auch in Ihren programmatischen Schriften, herausgestellt. Unter anderem haben Sie sich mehrfach mit Lenin auseinandergesetzt. Warum?

Was »Lenin« betrifft, habe ich ja dieses Stück gemacht, das an seinem Lebensende spielt, am Ende der revolutionären Phase der sowjetischen Geschichte. Lenin hatte seinen Hirnschlag, die Weltrevolution ist im Stalinismus versackt, und es hat so eine Art kleinbürgerliche Lähmung stattgefunden. Wir haben eine Datscha auf die Bühne gebaut, und da sind dann all diese Menschen, die kommen, um sich Lenin anzuschauen. Stalin kommt vorbei, Trotzki kommt vorbei, Lunatscharski, der Kulturpolitiker, der den Übergang von der Avantgarde zum sozialistischen Realismus vollzogen hat, schaut vorbei, auch Majakowski. Aber gleichzeitig geht es um Banalitäten wie: »Funktioniert der Wasserhahn?« Und das zeigt das Stück. Lenin wurde von Ursina Lardi gespielt, einer meiner Lieblingsschauspielerinnen. Es ist eine hyperrealistische Inszenierung, aber mit absurden Elementen, wie eben, dass Lenin von einer Frau dargestellt wird. Das hat mich interessiert.

Sie haben vor einigen Jahren aber auch eine Broschüre veröffentlicht, mit dem Titel »Was tun?« – das bezieht sich ebenfalls auf Lenin.

Bei Lenin ist das der Titel eines sehr in der Entstehungszeit, 1902, verhafteten Texts, in dem er das Zusammenspiel zwischen Intellektuellen und Proletariat bei der Überwindung des Kapitalismus darlegt. Den Titel hat er übrigens von dem gleichnamigen Roman von Nikolai Tschernyschewski, den er sehr bewunderte, und in dem schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Utopie eines Zusammenlebens im Kollektiv, in einer Kommune beschrieben wird.

In dem Text von Lenin geht es ja in gewisser Weise um die Vernetzung von Proletariat und Intellektuellen …

Eben, und heute ist nicht mehr die Frage, wie gut sind wir vernetzt, oder was wissen wir, oder wie gut haben wir Zugriff auf Informationen – wir sind schließlich eine Wissensgesellschaft –, sondern eher: Wie setzen wir das in Handlung um, gerade dann, wenn wir nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen? Deswegen war für mich auch das »Antigone«-Projekt so interessant, mit all den verschiedenen Gruppen, die da zusammengekommen sind. Im Amazonasgebiet gibt es ja einerseits die Landlosenbewegung, mit Millionen von Familien, aber auch die Indigenen. Das sind ja Gegner – die einen haben Land, seit Tausenden von Jahren, und die anderen hätten gerne ein Stück Land, haben aber keines. Dann hast du auf der einen Seite diese manchmal etwas machistische, lateinamerikanisch-marxistische Linke, die aus der Stahl- und Minenarbeiterschaft kommt, und die mit Lula (Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, jW) auch so ein bisschen die Großindustrie umwirbt, und auf der anderen Seite die Grünen, die LGBTQ-Bewegung und so weiter. Die sind sich alle auf verschiedensten Ebenen nicht einig, haben aber trotzdem eine Strategie gefunden, Macht zu ergreifen, reale Erfolge zu feiern, Land zu besetzen – man muss sich vorstellen, die haben 500.000 Familien angesiedelt und gleichzeitig das Eigentum abgeschafft. Und sie haben bei unserem Projekt bei jeder Szene, die wir gedreht haben, darüber diskutiert, wie man die jetzt genau macht. Aber wenn man dann diskutiert hat und einig ist, dann macht man es auch.

Das ist eine Praxeologie, dieses Wiedererlernen gemeinschaftlicher Arbeit, die in unseren atomisierten neoliberalen Gemeinschaften wie in Westeuropa fehlt. Hier bei uns hat quasi eine ganze oder sogar mehrere Generationen daran gearbeitet, eben nicht mehr in irgendwelchen Strukturen zu stecken, die diesbezüglichen Traditionen zu zerstören, und ist in dem »eiskalten Wasser des Kapitals«, wie ja Marx sagt, gelandet, so dass man jetzt erst wieder einen neuen Schritt machen muss.

Diese Praxeologie der brasilianischen Linken ist für Sie also auch ein Vorbild für europäische linke Bewegungen?

Ja, und auch für Institutionen. Es ist doch toll, dass man sich bei in einer Institution wie ein Festival oder ein Theater nicht unbedingt einig sein muss, es nicht eine Minderheit geben muss, und alle müssen sich dann absolut einig über jeden sein … Wo Sachen stattfinden können, die ich politisch vielleicht nicht vertrete, aber akzeptieren kann. Diese Logik, diese Großzügigkeit und dieses weiter gefasste Bild von dem, was innerhalb einer Gemeinschaft passieren kann und soll, ist der Schritt, den wir wieder zum Kollektiv zurück machen müssen. Dass wir aus dieser Vorstellung, die ich noch in der Schule gelernt habe – »Ideologie und Kollektiv sind böse, weil am Schluss marschiert dann Deutschland immer in Polen ein« – herauskommen. Dass immer gleich der Totalitarismus hinter der nächsten Ecke lauert, wenn man sich mal einig ist, kann man heute auch wieder ein bisschen lockerer sehen …

Im »Genter Manifest« heißt es ja, mindestens eine Produktion pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet stattfinden. Wenn man sich Projekte wie das »Kongo-Tribunal« oder »Orest in Mossul« anschaut, dann gewinnt man auch den Eindruck, es passiert vor Ort ganz viel, solange das Stück oder das Projekt läuft und aktuell ist – aber wie ist es danach? Die politische Aktivierung, die Sie postulieren, geht die weiter?

Das ist eine interessante Frage, im Grunde die nach der Dauerhaftigkeit oder der Nachhaltigkeit von Aktivismus. Man kennt das ja: Man geht auf eine Demo, oder hat einen Kongress organisiert, und es ist wahnsinnig intensiv, und dann kommt das berühmte Post-Premieren- oder Post-Kampagnen-Loch, in das man fällt, und man ist deprimiert. Die kollektive Erfahrung, die so erhebend ist, dass sie einen fast den eigenen Tod vergessen lässt, kollabiert in einen Zustand, in dem man im Grunde fast wie tot ist. Und die Frage ist, wie kann man diesen Aktivismus etwa bei der Landlosenbewegung auf Zeit stellen. Da gibt es dann eine pragmatische Seite, wie beispielsweise bei dem Jesus-Film, den wir für das Kulturhauptstadtjahr von Matera 2019 in Süditalien gemacht haben …

Da haben Sie an dem Ort, an dem auch Pasolini seinen Jesus-Film gemacht hatte, das Evangelium neu verfilmt, mit dem Politaktivisten Yvan Sagnet als Jesus, der 2011 als Betroffener den ersten Landarbeiterstreik in Süditalien initiiert hat …

Ja, die Idee war damals, was würde Jesus im 21. Jahrhundert predigen, und wer wären seine Jünger. Sagnet hatte ja die Geflüchteten, die in Süditalien zu Tausenden unter unmenschlichen Bedingungen als Tagelöhner auf den Tomatenfeldern der Agrarindustrie arbeiten, mit ortsansässigen Kleinbauern und -bäuerinnen zusammengebracht, die von denselben Agrarkonzernen in den Bankrott getrieben wurden. Es ist uns gelungen, ein Netzwerk für die Abnahme von Tomaten dieser Kooperativen aufzubauen, dass dazu führt, dass die immerhin schon an die tausend Menschen, die in dem Projekt auf dem Land arbeiten, Arbeitspapiere bekommen und dadurch legalisiert werden, und dann hast du eine Legalisierungsmaschine für Flüchtlinge, mit unserem Jesus-Film als Propagandafilm.

Ein anderes Beispiel ist »Orest in Mossul«. Da sind wir nach dem Theaterprojekt in Kontakt geblieben und haben dann 2021, als Teil einer UNESCO-Initiative für Mossul, eine Filmschule gegründet. Die Leute, die bei unserem Theaterprojekt mitgearbeitet haben, werden dort zu Filmregisseuren ausgebildet, und die Filme, die sie machen, werden auf europäischen Festivals gezeigt. Mittlerweile machen wir schon die zweite Filmklasse, zusammen mit der UNESCO.

Das »Kongo-Tribunal« haben wir 2015 begründet und seither wurden in verschiedenen Ländern über zehn Tribunale durchgeführt. Das letzte hat wieder in Katanga stattgefunden, im Dezember. Ich war auch wieder anwesend, aber ganz oft bin ich dann gar nicht mehr dabei. Da wird dann das, was wir gemacht haben, als Format genutzt, und ist auch ganz bewusst als Format frei verfügbar. Das ist etwas, was ich nicht bei allen Projekten mache, aber bei einigen, wo ich merke, da funktioniert es schon. Und genau das ist Punkt acht des »Genter Manifests«, den Sie angesprochen haben: Man muss einmal im Jahr an einem Ort inszenieren, einer Konfliktzone, wo es keine kulturelle Infrastruktur gibt, und zwar einfach deshalb, weil man genau dadurch, durch das Projekt, eine schafft. Und dort bildet man dann Kameramänner aus, die ihre eigenen Filme drehen, zum Beispiel.

Zu einer anderen Frage: Sie haben mit ganz unterschiedlichen Ansätzen des Realistischen Theaters gearbeitet: Reenactments, Überschreibungen antiker Stücke … Wie entscheiden Sie sich, wie Sie vorgehen?

Meistens ist es der Kontext, der überhaupt immer alles bei mir entscheidet. Man merkt, dass der eine Stoff in einer bestimmten Situation funktioniert und der andere nicht. Beispielsweise hätte »Antigone« vielleicht in Süditalien nicht funktioniert, aber die Bibel sehr wohl. Und in dieser Grenzsituation, an dieser Grenze der Zivilisationen oder Kosmologien und der Besitzverhältnisse, die es im Amazonas nach wie vor gibt, hat »Antigone« perfekt funktioniert, weil man da wirklich zwei Systeme aufeinanderprallen sieht. Der moderne Staat und die traditionelle Gesellschaft, Antigone und Kreon. Das war perfekt. Und die Frage für uns war, was ist – nach dem Bürgerkrieg und dem Gottesstaat im Fall von »Orest in Mossul« – der richtige Ort.

Und man greift das ganze Leben immer wieder auf Stoffe zurück, die einen schon in der Jugend fasziniert haben, auf die vielleicht 50 bis 100 Stoffe, die einen schon in der Anfangszeit beeinflusst haben. Die poppen dann in regelmäßigen Abständen auf, bis man irgendwann stirbt. Selbstverständlich kommen auch immer wieder neue Dinge, aber die Leute glauben oft, Milo reist rum, und dann wird ihm irgendwo ein Buch gereicht, und das macht er dann, aber so ist es nicht. Im Grunde sind es immer ganz alte Geschichten, die dann plötzlich in einem Kontext aktiviert werden.

Zum Beispiel die Orestie, und überhaupt die griechische Tragödie – für das Stück »Empire« habe ich eine Reise nach Nordsyrien gemacht, das zu diesem Zeitpunkt in der Hand von Rojava und den Kurdenmilizen war. Damals war Mossul noch besetzt, und ich war in Sindschar, der total zerstörten Stadt der Jesiden, wo alle versklavt wurden und man über 70 Massengräber gefunden hat. Dort ist die Front verlaufen, und das Projekt hieß auch zunächst »Orest in Sindschar«. Ich war also dort, mit diesen kurdischen Kämpfern und war immer abends in der Stadt, einer Großstadt, die aber total zerstört war. Man hat das Gefühl, man ist gleichzeitig im Jetzt und in einer antiken Ruinenstadt. Das hat in mir etwas sehr Griechisches wachgerufen. Und Mossul ist ja die Antike der Antike. Die Griechen der klassischen Zeit sprachen über Mossul vielleicht so, wie wir über das antike Athen sprechen. Plötzlich haben sich die Zeiten überschnitten, und damit war die Situation gegeben.

Ist für Sie politisches Theater denn immer realistisches Theater, oder gibt es auch Theaterformen, die nicht realistisch und trotzdem politisch sind?

Mein Realismusbegriff ist wie gesagt sehr situationistisch – für mich ist Realismus, wenn ein Stoff auf eine Situation reagiert. Die Situation kann auch über einen Schauspieler kommen. Zum Beispiel hat mich Marian Pensotti, der argentinische Theatermacher und Mitbegründer des Ensembles »Grupo Marea« angerufen, als er sein aktuelles Stück »La Obra« vorbereitet hat. Er hat mich gefragt, ob ich ihm einen Schauspieler aus dem Nahen Osten empfehlen kann, den ich richtig gut finde, und da habe ich ihm selbstverständlich Rami Khalaf genannt, der in »Empire« eine der Hauptrollen gespielt hat. Dann sah ich Rami, als er in »La Obra« von Mariano Pensotti eine erfundene Biographie spielt, die aber auf seltsame Art und Weise mit seiner wirklichen Biographie – der eines syrischen Flüchtlings – zusammenhängt, die er wiederum in meinem Stück, in »Empire«, auf der Bühne darstellt.

Die Fiktion der Erzählung braucht diesen Kontext, der in dem Stück auftaucht, das im Grunde von etwas ganz anderem handelt. Das ist Fiktion, aber genauso ist es realistisch – als würde er wirklich sein Leben erzählen. Realismus heißt für mich, das sage ich auch im »Genter Manifest«, dass die Situation selbst real wird für den, der sie sieht. Und schlechter Realismus ist, wenn nur etwas dargestellt wird. Daran glaube ich aber nicht. Oder es ist nur eine technische Reproduktion, etwa, wenn man ein Foto von Mossul sieht – was erzählt mir das dann über die Situation dort? Brecht hatte ja gesagt, ein Foto von der Front einer Fabrik sagt gar nichts, man muss hineingehen und mit den Arbeitern reden. Das ist Realismus, wie ich ihn verstehe, und nur so entsteht ein realistisches Bild.

Das heißt, wenn beispielsweise Marina Abramovic in ihrer berühmten Performance »Balkan Baroque« stinkende Rinderknochen zu Widerstandsliedern aus dem Zweiten Weltkrieg wäscht, mit Fotos ihrer Eltern im Hintergrund, die beide Partisanen waren, dann ist das für Sie auch Realismus?

Ja, unbedingt. Aber es ist realistisch, weil sie mit ihrer Biographie es macht. Würde ich das machen, wäre es das nicht.

Milo Rau wurde 1977 in Bern geboren. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Zürich, Berlin und Paris, unter anderem bei Tzvetan Todorov und Pierre Bourdieu, und arbeitete zunächst als Journalist. Seit 2002 schreibt er auch für das Theater und wirkt als Regisseur, unter anderem an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, am Théâtre des Amandiers in Paris und an den Münchner Kammerspielen. 2007 gründete er als Thinktank und Produktionsinstanz seiner Projekte das »International Institute of Political Murder«. Zu seinen wichtigsten Produktionen zählen die »Europa-Trilogie« mit den Stücken »The Civil Wars«, »The Dark Ages« und »Empire«, das »Kongo-Tribunal« und »Orest in Mossul«. In seinem aktuellen Projekt »Antigone am Amazonas« widmet er sich – ausgehend von einem Massaker der Polizei an Angehörigen der brasilianischen Landlosenbewegung im Jahr 1996 – dem von internationalen Konzernen und ihrer Profitgier angetriebenen beispiellosen Raubbau an der Natur im Amazonasgebiet und der damit einhergehenden Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Die Inszenierung war schon für 2020 geplant, verzögerte sich aber durch Pandemie und Lockdown und hatte im Mai 2023 in Gent Premiere. Von 2018 bis 2023 war Rau Intendant des NT Gent, seit Juli 2023 ist er Intendant der Wiener Festwochen. Die erste von ihm kuratierte Ausgabe des Festivals findet im Sommer 2024 statt.

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