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Aus: Ausgabe vom 30.09.2023, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Eine normal gebaute Wahrheit

Ibsens »Volksfeind« in der türkischen Gegenwart: Emin Alpers vierter Spielfilm »Burning Days«
Von Holger Römers
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Triftige Motive? Ein Fall für den jungen Staatsanwalt

Gleich zu Beginn von »Burning Days« blickt Emre (Sela­hattin Paşalı) in einen Abgrund. Der junge Staatsanwalt ist in ein türkisches Provinzkaff entsandt worden, in dessen sonnenverbranntem Umland es vermehrt zu Erdfällen kommt. Als wahrscheinliche Auslöser werden die Bauarbeiten an einem neuen Wasserversorgungsnetz genannt, die in dem Film allerdings bis zuletzt unsichtbar bleiben. Um so mehr können die Senklöcher als Sinnbilder der mutmaßlichen Korruption der örtlichen Honoratioren gesehen werden. Von denen wird der Zugezogene auch prompt umgarnt. Gleich Emres erste Dialogsätze lassen uns wissen, dass ihm keine Ausreden mehr einfallen, um sich den wiederholten privaten Einladungen des zur Wiederwahl stehenden Bürgermeisters Selim (Nizam Namidar) zu entziehen. Sobald ein Abendessen im Haus des Lokalpolitikers mit dessen Sohn, dem Anwalt Şahin (Erol Babaoğlu), sowie dem örtlichen Zahnarzt Kemal (Erdem Şenocak) in einen ungewollten Vollrausch gemündet ist, sind die Abgründe, die sich am fiktiven Handlungsort vor Emre auftun, aber noch in anderer Hinsicht metaphorisch zu verstehen: Lange verdrängte Begierden geben dem adretten Junggesellen plötzlich Grund zu ganz widersprüchlichen Befürchtungen.

Am nächsten Tag wird bekannt, dass das geistig behinderte Roma-Mädchen Pekmez (Eylül Ersöz), das unvermittelt im Garten des Bürgermeisters aufgetaucht war, vergewaltigt worden ist. Fortan wird der Staatsanwalt von unbestimmten Flashbacks – oder Phantasien? – heimgesucht, die ihn als potentiellen Mitwisser oder gar Mittäter erscheinen lassen. Ebenso besorgt ist Emre jedoch bezeichnenderweise wegen der vermeintlichen Zudringlichkeiten, denen er im weiteren Verlauf der Nacht im Nachbarhaus ausgesetzt gewesen sein könnte, nachdem der oppositionelle Journalist Murat (Ekin Koç) ihn vor der Tür aufgelesen hatte.

Regisseur Emin Alper, der zu seinem vierten Spielfilm auch wieder das Drehbuch verfasst hat, variiert ein bewährtes Thrillermuster, wenn er den Protagonisten bei den folgenden Ermittlungen mit seiner Befangenheit und seinen Erinnerungslücken ringen lässt. Allerdings verzichtet der türkische Filmemacher auf die Verwendung konkreter Genreversatz­stücke. Eine buchstäbliche Blutspur, die sich früh durch den kleinstädtischen Handlungsort zieht, gerinnt sogleich zur Metapher, sobald sich ihre Ursache herausstellt. Entscheidende Aktionen bleibend hingegen fast durchgehend unsichtbar. Statt dessen kontrastiert Alper wie in seinem letzten Film »Eine Geschichte von drei Schwestern« (2019) vereinzelte Landschaftspanoramen mit langen Dialogszenen, deren Doppelbödigkeit von Kameramann Christos Karamanis bei Nacht in ein reizvolles Chiaroscuro gehüllt wird.

Dabei ist der Plot noch abstrakter als in »Chinatown« (1974), wo sich im Hintergrund ebenfalls schemenhaft ein Bauprojekt zur lokalen Wasserversorgung abzeichnet, weshalb Polanskis New-Hollywood-Klassiker als filmhistorische Referenz naheliegt. Als eigentliches Vorbild nennt Alper jedoch Henrik Ibsens Stück »Ein Volksfeind«. »Natürlich wurde die Idee inspiriert von den neuesten politischen Entwicklungen in meinem Land«, fügt der 49jährige Filmemacher hinzu. Durchaus folgerichtig wird die Kritik an der Provinzelite hier ebenfalls in einen dezidierten Antipopulismus umgebogen: Zuletzt treten die »Plebejer«, wie sie im Bühnenstück genannt werden, wieder als rasender Mob in Erscheinung.

In Nachfolge zu »Ein Volksfeind« bleibt »Burning Days« stets mehrdeutig. Alper liefert seinen Hinterwäldlern früh ein triftiges Motiv, eine neue Wasserversorgung zu wollen. Jedenfalls sieht man mehrfach Menschenmengen mit Plastikkanistern vor Vergabe­stellen Schlange stehen. Umgekehrt scheint bis zuletzt fraglich, ob die Entscheidungsträger auch finanzielle Eigeninteressen mit dem Bauprojekt verbinden. Die Dramaturgie mag nicht einmal klarstellen, dass Murat schwul ist, wie ihm verklausuliert von Mitbürgern nachgesagt wird – und wie Emre fürchtet oder hofft. Erst recht lässt das Drehbuch den Protagonisten nie Wahrheits- und Freiheitsliebe deklamieren, wozu das gut 140 Jahre alte Drama seiner Hauptfigur noch reichlich Gelegenheit bot. So liegt es denn an uns, abschließend zu beurteilen, ob Emre von der »kompakten Mehrheit«, wie es bei Ibsen hieß, wohl wirklich jener Abgrund trennt, der sich im letzten Bild des Films noch einmal metaphorisch abzeichnet.

»Burning Days«, Regie: Emin Alper, Türkei/Frankreich/BRD u. a. 2022, 129 Min., bereits angelaufen

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