Arme Kinder sollen Burger essen
Von Dieter Reinisch, Wien
Schon wieder beschäftigt Österreich ein Video: Nicht in ganz so unbekümmerter Umgebung wie das im Mai 2019 veröffentlichte »Ibiza-Video«, aber doch in heiterer Gesellschaft mit vielen Glas Wein. Darin teilt der konservative Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) gegen nahezu jeden aus, der sozial unter dem Politiker steht, der pro Woche 5.800 Euro erhält.
So fragt er zur Forderung nach einer warmen Mahlzeit für jedes Kind in die heitere Runde, die fast ausschließlich aus älteren Männern besteht: »Was heißt, ein Kind kriegt keine warme Mahlzeit in Österreich?« Er liefert sodann selbst die Antwort: »Wisst ihr, was die billigste Mahlzeit in Österreich ist? Sie ist nicht gesund, aber billig: ein Hamburger bei McDonald’s.« Wenn der Staat jedoch mit »Kalorientabellen« eingreife, sei man bald in der DDR.
Weiter sagt Nehammer in dem Video über alleinerziehende Frauen: »Wieso erhöht sich die Teilzeitquote denn nicht? (sic!; jW) Nicht einmal bei den Frauen, die keine Betreuungspflicht haben. Wenn ich zuwenig Geld habe, dann geh’ ich mehr arbeiten.« Auch kritisiert er, dass die Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen und ihrer Forderung nach einer 32-Stunden-Woche stur seien. Dann greift er Arbeitslose und den Arbeitsmarktservice (AMS) an, da dort im Beirat auch Sozialpartner säßen: »Jetzt beantragst du als Unternehmer jemanden, du brauchst ja aus einem Drittstaat eine Arbeitskraft, sagst es dem AMS, das AMS checkt zuerst in deiner Region, dann schicken’s dir vier Hawara (Österreichisch für Leute, jW), die nicht einmal hackln (arbeiten, jW) wollen.«
Aus der Opposition und karitativen Organisationen, selbst der ÖVP-nahen Diakonie, hagelte es Kritik an diesem offen zur Schau gestellten Klassismus des österreichischen Regierungschefs. Martin Schenk, stellvertretender Diakonie-Direktor, fand Nehammers Aussagen gegenüber ORF eine »Verhöhnung von Familien, die es eng haben«. Auch die Katholische Jungschar kritisierte die christliche Mutterpartei scharf: »Dann sollen sie doch Burger essen« sei blanker Zynismus, zeigte sich die Vorsitzende Martina Erlacher entsetzt über die Entgleisung des Bundeskanzlers. »Wir brauchen Politiker*innen, die Verantwortung übernehmen und nicht in weingeselliger Runde Scherze über die Ärmsten unserer Gesellschaft machen«, schrieb sie in einer Pressemitteilung. Auch SPÖ-Chef Andreas Babler äußerte, dass man in dem Video einen Bundeskanzler sehe, »der die Leute für etwas verachtet, das nur er ganz direkt und persönlich zu verantworten hat«. Babler warnte davor, dass sich diese Politik nach der nächsten Wahl unter einer FPÖ-ÖVP-Rechtskoalition weiter verschärfen werde.
In der ÖVP selbst teilen jedoch viele die Aussagen von Nehammer. Während aus den Vorfeldorganisationen Kritik zu vernehmen war, wurde der Parteichef und Bundeskanzler von Ministern und Landeshauptleuten verteidigt – auch wenn manchen von ihnen »der Ton« etwas missfiel. Noch am Donnerstag veröffentlichte Nehammer ein Videostatement, in dem er seine Aussagen verteidigt: »Ich stehe dazu, dass sich Leistung wieder lohnen muss. Und ich stehe dazu, dass Eltern eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder haben müssen.«
Gefilmt wurde das Handyvideo bei einem Auftritt vor ÖVP-Funktionären im Juli in einer Weinbar in Hallein (Salzburg), veröffentlicht wurde es jedoch erst am Mittwoch abend von einem ÖVP-Mitglied. 2024 wird in Österreich gewählt. Die FPÖ führt in den Umfragen, und die ÖVP schwächelt. Derweilen arbeitet Exkanzler Sebastian Kurz an einem Comeback. Nicht alle in der ÖVP sind darüber erfreut. Es wird vermutet, dass eine Rückkehr von Kurz als Spitzenkandidat wahrscheinlich wird, falls die ÖVP in den Umfragen konstant unter 20 Prozent rutscht. Das nun veröffentlichte Nehammer-Video rückt ein derartiges Szenario möglicherweise näher.
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Leserbrief von Wolfgang Schmetterer aus Graz (2. Oktober 2023 um 09:12 Uhr)Was soll man von einem Bundeskanzler, der sich nie durch besondere Leistungen hervorgetan hat und damit ein würdiger Nachfolger des Sebastian Kurz ist, anderes erwarten? Nehammer der allenfalls den geistigen Horizont eines Flohs hat (ohne den Floh beleidigen zu wollen), im Vergleich zu diesem aber große Töne spuckt und mit seinem Mundwerk dynamogleich Gehirnströme generiert, die ohne seine erbärmlichen, von Arroganz triefenden Äußerungen gar nicht vorhanden wären, passt wunderbar in diese Partei, die Zynismus und Menschenverachtung unter dem Deckmäntelchen des Christlichsozialen auf ihre Fahnen geschrieben hat. Dieses Parteigesindel spuckt auf all die Menschen, die ihren Alltag fernab politischer Seilschaften unter zum Teil widrigsten Umständen meistern (müssen) und das Land am Laufen halten, das die ÖVP-Bagage als Selbstbedienungsladen sieht, in dem sie an der Kasse vorbeigeht, ohne zu bezahlen. Diesen überbezahlten Volksvertretern, die nur ihr dekadentes »Parteivolk« vertreten, sollte man sogar das verweigern, was sie armen Familien nahelegen – den billigen Burgerfraß –, und sie bei Wasser und Brot für eine geraume Zeit von der Gesellschaft fernhalten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Uwe H. aus Greding (30. September 2023 um 11:02 Uhr)Das ist eine ähnlich zynische Aussage, wie sie Marie-Antoinette angeblich gesagt hat: »Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen«. Das war einer der Auslöser der französischen Revolution.
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